Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
Namen, Geburtsort, Beruf und Herkunft erfuhren und sich mit ihm über seinen »bedauernswerten« jüngeren Bruder ausgetauscht hatten. »Er hat blaue Augen«, meinte ein aufmerksamer Zeitgenosse.
»Seine Mutter war Tscherkessin«, erklärte Ramses. »Die Lieblingsfrau von meinem Vater, bis sie bei der Geburt meines Bruders starb. Meine Mutter …«
Es währte nicht lange, bis Ramses ihnen seine ehrlichen Absichten als Händler begehrenswerter Waren vermittelt hatte. Die Stadt war voller Uniformierter, die mit der Arroganz der Europäer gegenüber Einheimischen durch die Straßen flanierten. Der Gesprächigste unter ihren neuen Freunden, ein Mann im mittleren Alter mit nur einem Auge und einem Stumpf, wo seine rechte Hand gewesen war, wagte ein paar sarkastische Bemerkungen über die Deutschen. »Aber«, setzte er hinzu, »sie sind auch nicht schlimmer als die Türken. Zum Teufel mit diesem Krieg! Egal wer gewinnt, wir sind immer die Verlierer. Wenn Gaza verteidigt wird, werden unsere Häuser und Lebensräume zerstört.«
Es war ein guter Einstieg, den Ramses für seine Zwecke nutzte. Seine Fragen und Kommentare generierten eine Fülle an Informationen, das meiste ausgesprochen ungenau, aber auch einige zuverlässige Beschreibungen diverser öffentlicher Personen. Von Kressenstein, der deutsche Befehlshaber, wurde gefürchtet, aber respektiert; der Gouverneur war gefürchtet und verhasst; der türkische General war ein fettes Schwein, saß nur in seinem schönen Haus herum und schlug sich den Bauch voll. Und so ging es in einem fort, bis die Abenddämmerung hereinbrach und sich die Gruppe zerstreute.
Ramses und Chetwode verbrachten die Nacht in den malerischen Ruinen, die bei den Einheimischen als Samsons Grabmal bekannt waren – die aber eigentlich auf das Mittelalter datierten. Das Mondlicht sickerte durch die verfallenen Wände und das Dach, zeichnete bizarre Muster auf den Boden, und das Blattwerk der alten Olivenbäume raschelte im Nachtwind. Während sie das im Basar gekaufte Essen vertilgten, stand Chetwodes Mundwerk nicht still. Er hatte den ganzen Tag schweigen müssen, und das zehrte an ihm.
»Du hast gar nicht nach Ismail Pascha gefragt«, meinte er vorwurfsvoll.
»Man versucht direkte Fragen zu vermeiden.« Ramses schob eine Hand voll Orangenschalen beiseite und streckte sich auf dem Boden aus. »In diesem Fall war es gar nicht erforderlich; du warst doch dabei; hast du nicht gehört, was sie über ihn gesagt haben?«
»Alle redeten so schnell«, maulte Chetwode. »Wie dem auch sei, es ist deine Aufgabe, und du wirst den Burschen bestimmt aufspüren.«
Die Heldenverehrung ging ihm allmählich auf die Nerven. Ramses hätte nicht zu sagen vermocht, warum er diese Information nur ungern teilte; eine alte Gewohnheit, vielleicht, oder einer der Grundsätze beim Geheimdienst: Gib nie mehr preis, als dein Gegenüber unbedingt wissen muss. Vielleicht sollte Chetwode es wissen, schon allein, um ihn vor einer impulsiven Handlung zu bewahren.
»Der heilige Ungläubige, wie sie ihn nennen, wird morgen gegen Mittag in der Moschee von Hashim beten«, führte Ramses aus. »Ich denke, es wird ziemlich voll werden. Wir brechen zeitig auf und suchen uns einen Platz, von wo aus wir einen guten Blick auf ihn haben.«
»Und dann?«
»Dann machen wir einen schnellen und – hoffentlich – unauffälligen Abflug von Gaza.«
»Nach nur zwei Tagen? Und ohne – ohne irgendwas zu bewerkstelligen?«
Ramses versuchte sich zu beherrschen. Die Verantwortung für diesen Kindskopf war schon nervenaufreibend genug, auch ohne ihm Vorträge zur Spionagetätigkeit halten zu müssen. »Du hast dich doch nicht etwa auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet? Wir müssen mutmaßen, dass gewisse Leute hier Neuankömmlinge bespitzeln. Eine unserer reizenden Bekanntschaften im Kaffeehaus könnte ein Agent des Gouverneurs oder Militärs sein.«
»Tatsächlich?«
»Exakt so operieren die Türken. Sie trauen keinem, und das aus gutem Grund. Sie sind hier nicht gern gesehen. Früher oder später spricht sich unsere Anwesenheit herum, und irgendein heller Kopf kommt auf die Idee, uns Fragen zu stellen. Dann wären da noch diese Presspatrouillen. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Rekruten. Einen weiteren Tag können wir nicht riskieren!« Er gähnte und fragte sich, wieso er sich überhaupt aufregte. »Ruh dich ein bisschen aus.«
»Sobald ich das hier fertig habe.«
Ramses setzte sich abrupt auf. In dem verfallenen
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