Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
Yunus war ruhig. Leute kamen und gingen, bestellten ihre Felder, brachten Nachschub in die englischen Feldquartiere und frönten den Geschäftsaktivitäten, die sich durch neue Kunden ergeben. Unmöglich, sie alle im Auge zu behalten.
Nachdem sie den Bergkamm überwunden hatten, lotste Ramses seinen Gefährten in einem weiten Bogen, der sie bei Sonnenaufgang zu einem Wachposten führte. Chetwode hatte protestiert; er wollte romantisch durch Stacheldraht und Kaktushecken robben.
»Es ist zu anstrengend in diesen Sachen«, sagte Ramses knapp. Er wusste aus Erfahrung – und von jenem Meisterverbrecher, seinem Onkel –, dass man einen Zielort am besten erreichte, indem man aufrechten Ganges um Einlass bat. Er hatte sich eine plausible Geschichte zurecht gelegt – eine kranke, betagte Mutter erwartete ihn, er hatte genug Geld dabei, um Neid hervorzurufen, aber keinen Verdacht, und ein paar Beutel mit einer Substanz, die vermutlich besser wirkte als bare Münze. Haschisch war nicht schwer zu bekommen auf türkischem Territorium, die besten Qualitäten allerdings teuer.
Der Dienst habende Offizier nahm ihm die überzogene Geschichte mit der todkranken Mutter nicht ab. Das hatte Ramses auch nicht erwartet; er wechselte zum nächsten Verhandlungspunkt über, worauf man ihm eine gewisse Geldsumme abknöpfte und die Naturalien. Kein sonderlich hoher Prozentsatz; der Wachposten wusste, dass, wenn sein Opfer lautstark protestiert hätte, ein weiterer Offizier auf den Plan getreten wäre – und seinen Anteil verlangt hätte.
Ramses war nur einmal in Gaza gewesen, im Sommer 1912, trotzdem kannte er sich ziemlich gut aus; er war mehrere Tage umhergestreift, hatte die Annehmlichkeiten des Souks genossen und die schönen alten Moscheen bewundert, und er hatte einen kurzen Bericht über die antiken Ruinen verfasst, weil er wusste, dass sein Vater dies erwartete. Es gab nicht viele. Fast viertausend Jahre lang war das Gebiet zwischen dem Sinai und dem Euphrat umkämpft worden, erobert und zurückerobert, zerstört und wieder aufgebaut. Ägypter, Assyrer, Phönizier, Griechen, Römer, Sarazenen und Kreuzritter hatten Gaza nacheinander besetzt. Es war eine der fünf Städte der Philister, Stätte des berühmten Dagontempels, von Samson in seinem letzten und heftigsten Kampf zum Einsturz gebracht. (Diese Information hatte er von seiner Mutter;
sein Vater hielt nicht allzu viel von der Heiligen Schrift, es sei denn, archäologische Quellen vermochten den Wahrheitsgehalt zu belegen.) Die letzte Schlacht war im 16.
Jahrhundert von dem osmanischen Sultan Selim I. angeführt worden; um sich für den hartnäckigen Widerstand der Bewohner zu rächen, hatte er große Teile der Stadt plündern und zerstören lassen. Trotzdem war Gaza 1912
eine aufstrebende Stadt mit fast vierzigtausend Einwohnern gewesen. Die Bevölkerung hatte sich auch außerhalb der Stadtmauern angesiedelt, nach Norden, Süden und Osten. Der Stadtkern, wieder aufgebaut auf den Ruinen, umfasste Verwaltungsgebäude und Handelsniederlassungen sowie die Häuser der wohlhabenderen Bürger. Auf dem Berg, der sich im Zentrum erhob, stand die Große Moschee, ehedem eine christliche Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Damals hatte er einen angenehmen Nachmittag damit zugebracht, das Schnitzwerk und die prachtvollen grauen Marmorsäulen zu bewundern. Jetzt wurde sie als Waffenmagazin benutzt.
So viel zur Großen Moschee, dachte Ramses bei sich.
So viel zu den anderen architektonischen Schätzen von Gaza – die kleine Kirche von St. Porphyr, ein faszinierendes Beispiel für die frühe christliche Architektur, die hübsche alte Moschee von Hashim wie auch die Ruinen der alten Stadtmauern und ihrer sieben Tore. Moderne Waffen waren wesentlich effizienter als ihre frühen Vorläufer. Eine gut platzierte Bombe und die Große Moschee mit ihren acht schlanken Minaretten würde in Schutt und Asche liegen.
Und mit ihr Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen.
Der Souk schien wie immer zu prosperieren, mit seinen Ständen, an denen so ziemlich alles feilgeboten wurde – von handgeklöppelter Spitze über die schöne schwarze Keramik der Region bis hin zu köstlichen Früchten, Nüssen und Gemüsen, deren Schalen und Abfälle den Boden bedeckten. Ramses fand ein belebtes Café, hockte sich gemütlich hin und bestellte Pfefferminztee. Die Stammgäste waren überaus neugierig; sie unterzogen ihn einem gnadenlosen, wenn auch freundlichen Verhör und ließen nicht locker, bis sie seinen
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