Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
ihn an, doch er rührte sich nicht vom Fleck. »Ja oder nein?«
»Nein!«
Im Lichtschein der Taschenlampe sah er, dass die Türen weder verschlossen noch verriegelt waren, dennoch musste er sich vergewissern. Er drückte sie nacheinander auf, nur einen winzigen Spalt, um einen Blick hineinzuwerfen. Trotz seiner behutsamen Vorgehensweise ächzten die Scharniere, untermalt von dem spitzen Aufschrei des Mädchens. Sie zerrte an seinem Arm.
Ramses ließ sich fortziehen. Die Zellen waren leer, bis auf eine Rattenfamilie, die in einem modrigen Strohhaufen ein Zuhause gefunden hatte. Sie ging voran, auf Zehenspitzen, ihre schwarzen Röcke angehoben. Ramses folgte ihr über die Steintreppe und durch ein Gewirr von engen Gängen und kleinen Lagerräumen. Sicher kannte sie sich in diesem Kellergewölbe aus. Allerdings bezweifelte er, dass sie es selber ausgekundschaftet hatte.
Schließlich gelangten sie an eine Holztür, und sie drückte auf die Klinke. Ramses war nicht im Mindesten überrascht, als die Tür geräuschlos aufsprang. Sterne funkelten am Himmel, erhellten einen ummauerten Wirtschaftshof. Dieser war völlig schmucklos: kein Springbrunnen, keine Blumen, nur Gestrüpp und Müllhaufen. Sie befanden sich im hinteren Teil der Villa, in der Nähe des Küchentrakts. Er sah auf, musterte den Nachthimmel, entdeckte den Großen Bären und den Polarstern. In wenigen Stunden würde es dämmern. Die Zeit war ein wesentlicher Faktor, dennoch brannte ihm eine Frage auf der Seele.
Er wandte sich zu dem Mädchen. »Wer hat dir geholfen?«
»Niemand! Ich habe alles allein gemacht. Ich habe dich heute gesehen, als sie dich herbrachten, und ich … Dafür ist jetzt keine Zeit. Du musst dich beeilen.«
»Aber woher wusstest du –«
»Keine Fragen! Es wird nicht einfach für dich werden, den Weg aus der Stadt zu finden. Ich muss dir zeigen, wo –«
»Nein, geh zurück in dein Zimmer, bevor man dich vermisst. Ich weiß jetzt, wo ich bin.«
Sie legte ihre Hände auf seine Arme. »Ein Pferd. Ich werde dir eins besorgen.«
»Warum malst du mir nicht gleich eine Zielscheibe auf den Rücken?«, fragte Ramses und war schlagartig beschämt, da ihre Mundwinkel heftig bebten. Ihr Gesicht war so nah, dass er den Kajalstrich um ihre Augen gewahrte. Sie hatte sich zurechtgemacht wie für ein heimliches Rendezvous, und das groteske, rosafarbene Kleid war wirklich die Krönung.
»Es tut mir Leid«, murmelte er, und obschon jede Sekunde zählte, zermarterte er sich das Hirn nach einigen anerkennenden Floskeln. »Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen –«
Abrupt stieß er den Atem aus, da sie sich an ihn warf. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen«, hauchte sie. »Du kannst niemals mein sein, aber dein Bild ist für immer in meinem Herzen eingemeißelt!«
Sie war ein properes Persönchen, weich und warm und üppig, und er sah nur eine Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen.
Also küsste er sie, intensiv, aber abwesend, dann löste er sich aus ihrer Umarmung und schob sie durch die offene Tür.
»Durch dieses Tor«, wisperte sie. »Und dann nach links –«
»Ja, richtig. Hmmm – Gott schütze dich.«
Er schloss die Tür und strebte nicht zum Tor, sondern zu der Wand rechts von ihm. Wann würden sie sein Verschwinden bemerken und die Meldung herausgeben, dass ein englischer Spion geflüchtet sei? Vielleicht erst in einigen Stunden. Vielleicht auch viel früher. Er durfte es nicht riskieren, bis zum Morgen zu warten und den Weg zu nehmen, den er gekommen war.
Einmal über die Mauer, fand er sich in einer typisch arabischen Gasse wieder, eng, staubig und extrem dunkel. Sein Verdacht war unbegründet gewesen; niemand wachte vor dem Portal.
Er hatte ein bisschen übertrieben, als er dem Mädchen sagte, er wisse, wo er sei, gleichwohl orientierte er sich rasch. Die filigranen Minarette der Großen Moschee ragten im Südwesten in den sternenklaren Himmel. Dann war er also in der Nähe vom Serail, dem Gouverneurspalast, und der schnellste Weg stadtauswärts verlief in westliche Richtung.
Er brauchte länger als erwartet. Er musste die ostwestliche Hauptstraße meiden, die gut beleuchtet war; Wachen standen vor den Behördeneingängen. Die unvorteilhaft angelegten Parks boten ihm nicht immer Schutz, zweimal musste er eine Mauer überwinden, um Patrouillen zu umgehen. Zum Glück machten die Männer so viel Lärm, dass er früh genug gewarnt war.
Drei Meilen Sanddünen trennten Gaza vom Mittelmeer. Dort
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