Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
vermute, dass sie dafür eine Gegenleistung erwartete. Sie war eine – äh – heißblütige Frau. Ich glaube, sie hatte auch einmal ein Auge auf dich geworfen.«
»Nicht nur auf mich«, konterte Emerson. »Das war schließlich ihr Beruf. Sie kann die verschleierte Hathor nicht gewesen sein, Peabody. Ramses sagte, sie sei jung gewesen. Layla war schon vor zehn Jahren eine reife Frau.«
»Trotzdem, sie kennt jeden Meter des Westufers.«
»Und alle Männer, die dort leben«, bekräftigte Emerson mit einem bezeichnenden Grinsen, das ich geflissentlich übersah. »Was ist aus ihr geworden?«
»Ich weiß es nicht. Aber Selim. Emerson, wir sind mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert, aber im Hinblick auf meine letzte Theorie müssen wir der Demaskierung der Hathor oberste Wichtigkeit einräumen.«
Automatisch schweifte Emersons Blick zurück auf die Namensliste. »Mrs. Pankhurst?!«
Ich war hin- und hergerissen, ob ich den Kindern diese unerfreuliche Theorie schon unterbreiten sollte. Eine erquickende Nachtruhe, ein strahlender Morgen und (vor allem) die liebevolle Zuwendung meines Gatten stimmten mich wieder optimistisch. Schließlich waren sie keine Kinder mehr, sondern verantwortungsbewusste Erwachsene, und es oblag mir, sie vor einer potenziellen Gefahr zu warnen. Ich wartete damit, bis Sennia ihr Frühstück beendet hatte und ihre Schulbücher holte.
Gargery war der Einzige, der mich ernst nahm. Als unverbesserlicher Romantiker hatte ihn die verschleierte Dame mächtig fasziniert. Die anderen äußerten die gleichen Bedenken wie Emerson, nämlich dass die ganze Sache ein Konstrukt meiner Fantasie sei.
»Wie kommst du darauf, dass sie eine Waffe hatte?«, fragte Ramses, seine Brauen skeptisch hochgezogen. »Einem von uns vieren wäre bestimmt aufgefallen, wenn sie eine Pistole auf uns gerichtet hätte.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, versetzte ich. »Ihr habt ohnedies nicht viel bemerkt.«
»Es passierte so vieles auf einmal«, warf David ein. Er griff nach der Marmelade. »Allmählich tut mir die arme Frau richtig Leid. Muss doch frustrierend gewesen sein, als ihre Darbietung von der kreischenden Meute unterbrochen wurde. Kannst du dir vorstellen, wie sie über das Mauerwerk geklettert ist und sich ihr elegantes Gewand zerrissen hat?«
»Wie auch immer«, meinte Emerson, der die Essensaufnahme eingestellt hatte und vielsagend auf seine Armbanduhr schielte, »wir müssen jede Eventualität in Betracht ziehen. Peabodys wilde – äh – unorthodoxe Theorien haben sich häufig – ähm – gelegentlich als richtig erwiesen. Haltet alle die Augen offen!«
Gleich nach der Ankunft im Gelände stellte ich Selim zur Rede. Seit dem Eintreffen des Automobils war er mir bewusst aus dem Weg gegangen, doch an diesem Morgen hatte er etwas auf dem Herzen.
»Wann dürfen wir die längst überfällige Willkommens-Fantasia mit euch feiern, Sitt Hakim? Ramses wollte mit dir reden, und wir warten immer noch auf deinen Terminvorschlag.«
»Verzeih mir, Selim, Ramses hat mit mir gesprochen, aber die Sache ist mir entglitten. Du weißt selbst, wie schwierig es ist, Emerson für ein gesellschaftliches Ereignis zu erwärmen.«
»Es ist kein gesellschaftliches Ereignis«, befand Selim. Jetzt, da er mich in der Defensive wusste, verschränkte er die Arme und sah mich streng an. »Es ist Ehrensache und obendrein ein Vergnügen. Der Vater der Flüche wird sich deinen Wünschen fügen.«
»Was das Automobil betrifft, hat er meine Wünsche ignoriert.«
»Du hast es ihm aber nicht rundweg verboten, Sitt.«
Sein Bart zuckte, weil er sich ein Grinsen verkniff. Ich musste lachen.
»Du hast Recht, Selim. Wir haben solche Vergnügungen sträflich vernachlässigt. Mrs. Vandergelt möchte ebenfalls ein Fest für die Familie geben, und etliche alte Bekannte in Luxor haben Einladungen geschickt. Aber eure Fantasia hat Vorrang. Wie wär’s mit nächstem Freitag?«
Jetzt strahlte er. »Ich werde es Daoud und Kadija ausrichten.«
»Nachdem nun das Wichtigste geregelt ist, möchte ich ein paar andere Dinge mit dir besprechen.« Ich faltete ein Blatt auseinander. Ich hatte die Zeit gefunden, eine weitere Liste zu erstellen, überschrieben mit Offene Fragen.
»Aha«, murmelte Selim. »Eine Liste.«
Mehreren Punkten wusste Selim nichts hinzuzufügen. Man hatte den Verrückten, der auf Maryam losgegangen war, nicht zu stellen vermocht, genauso wenig wie denjenigen, der Daouds Boot zum Kentern gebracht hatte. Es gab keinen
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