Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
verführerisches Etwas wie das in Kairo.
Sie war flink und vertraut mit dem Gelände gewesen, trotzdem hatte sie Glück gehabt bei ihrer Flucht. Wenn Justin und sein Gefolge ihre Pläne nicht durchkreuzt hätten … Ein unangenehmes Prickeln jagte mir über die Wirbelsäule, als mir eine gänzlich neue Theorie schwante. Sie musste gewusst haben, dass die jungen Leute den Tempel an dem Abend besuchen wollten. Und doch hatte sie ihre Enttarnung riskiert, obwohl sie allein und die anderen zu viert gewesen waren, alle jung und agil und ebenso vertraut mit dem Terrain.
Es sei denn, sie hätte sie früh genug gestoppt … Hatte sie eine Waffe in dem wallenden Gewand versteckt? Ein Schuss hätte jede Verfolgung vereitelt, wenn sie einen von ihnen getötet oder ernsthaft verletzt hätte. Sie hatte Ramses versichert, dass sie ihm nichts Böses wolle, folglich konnte er nicht das Opfer sein. Aber wer dann? David? Lia? Nefret? Oder doch Ramses? Er hatte sich seinerzeit befreien können. Wer weiß, was sie tatsächlich mit ihm vorhatte?
Tief versunken in die wildesten Spekulationen, fuhr ich mit einem spitzen Schrei hoch, als die Tür aufging.
»Hast wohl mit einem Mörder gerechnet, was?«, forschte Emerson. »Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, Peabody.«
»Oh, Emerson, mir ist eben ein entsetzlicher Gedanke gekommen.«
»Das ist doch nichts Neues«, schmunzelte Emerson. Er wurde ernst und schloss mich in seine Arme. »Mein geliebtes Mädchen, du bibberst ja am ganzen Körper. Erzähl mir davon.«
Emerson genießt es, wenn ich mich angstfröstelnd an ihn klammere. Nach seinem Empfinden tue ich das viel zu selten. Also klammerte und zitterte ich wunschgemäß, während ich meine jüngste Theorie darlegte. Ich hatte gehofft, er würde toben und mir meine lebhafte Fantasie vorwerfen, doch als ich den Blick auf sein Gesicht lenkte, waren seine Brauen finster gewölbt, die Lippen zusammengepresst. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.
»Hölle und Verdammnis, Peabody«, knurrte er. »Ich gebe es ungern zu, aber es klingt irgendwie plausibel.«
»Ich hatte gehofft, du würdest toben, dass meine allzu lebhafte Fantasie mit mir durchgegangen sei.«
Seine Stirn glättete sich, und er grinste schwach. »Das ist sie, mein Schatz. Die Handlung würde sich hervorragend für einen Sensationsroman eignen, denn das alles fußt auf Vermutungen. Komm, gib mir einen Kuss.«
»Was hat das damit zu tun …«
»Gar nichts.« Emerson zog die restlichen Haarnadeln aus meiner Frisur und bog meinen Kopf zurück.
Nachdem er mich geküsst hatte, holte er zufrieden Luft. »Schon besser. So, jetzt setz dich hin und eröffne mir noch mehr von deinen brillanten Thesen. Schätze, dies ist eine deiner berüchtigten Listen?«
Widerstrebend reichte ich ihm das Papier. Er warf einen kurzen Blick darauf – zugegeben, es gab auch nicht viel zu sehen.
»Hmmmm. Bei allem Respekt für deine Fähigkeiten, meine Liebe, aber ich finde nicht, dass uns das irgendwie weiterbringt. Was ist das?« Er nahm die zweite Aufstellung und überflog sie. Sie erklärte sich von selbst, besonders einem Mann von Emersons Intelligenz. Als er mich fixierte, verriet seine Miene Bewunderung und Betroffenheit. »Wo zum Teufel hast du das alles her? Doch bestimmt nicht von Ramses.«
»Natürlich nicht. So unhöflich könnte ich niemals sein, dass ich ihn auf dieses heikle Thema ansprechen würde. Ich nehme nicht an, dass du …«
»Herrje, nein!« Emersons gesunde Gesichtsfarbe wechselte von Bronze zu Kupfer.
»Fällt dir denn noch jemand ein, den ich vergessen habe?«
»Ich wäre niemals so unhöflich zu mutmaßen«, versetzte Emerson. Sein Blick blieb indes auf das Papier geheftet. »Hmmmm. Ja, ich erinnere mich an das Bellingham-Mädchen. Grässliches junges Ding. Wer ist Clara?«
»Ein Mädchen, das er in Deutschland kennen gelernt hat. Er erwähnte sie in seinen Briefen.«
»Woher weißt du, dass er … Nein, erzähl es mir nicht. Violet? Oh ja, sie war eine heiße Verehrerin von ihm, was? Ich bin mir aber sicher, dass er nicht … Großer Gott! Doch nicht Mrs. Fraser! Ich habe mich schon damals gefragt …« Seine zuvor leise Stimme steigerte sich zu einem empörten Schnaufen. »Layla? Also, Peabody, du kannst dir wirklich nicht sicher sein, ob die beiden …«
»Das kann ich mir bei keiner«, versetzte ich bemerkenswert gefasst. Es machte einfach Spaß, mit meinem geliebten Gatten in dieser Form zu spekulieren. »Sie hat ihm das Leben gerettet, und ich
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