Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
werden dieses Eselchen für dich behalten.«
»Danke, Tante Amelia. Wenn ich älter bin, werde ich ein großes weißes Pferd reiten, wie mein Ur-Urgroßvater.«
»Nur ein ›Ur‹«, korrigierte ich und fragte mich im Stillen, was zum Kuckuck Emerson ihm erzählt haben mochte. Abdullah war nie ein begnadeter Reiter gewesen. »Wann besuchen wir ihn wieder?«
»Bald. Und jetzt geh und wasch dich rasch vor dem Abendessen.«
Charla wollte sich nicht von dem Esel trennen. Sie klammerte sich wie eine Klette daran, bis Ramses sie herunterhob und wegtrug.
Da ich einen gewissen Sicherheitsabstand zu dem Reitzirkus eingehalten hatte, brauchte ich nicht lange, um mich frisch zu machen. Ich gönnte mir einen kurzen Spaziergang durch den Garten und inspizierte meine Pflanzungen. Eine der Rosen schien mir leicht vertrocknet; ich nahm mir vor, Ali anzuweisen, sie besser zu gießen. Was für ein friedvoller Ort das war – der süße Duft der Blüten, melodisches Vogelgezwitscher. Ein leuchtend bunter Bienenfresser flatterte über mir, eine Taube stieß ihren gurrenden Schrei aus, fast wie ein menschliches Lachen. Der Schrei endete mit einem Kreischen, und ich stürzte mich eben noch rechtzeitig ins Gebüsch, um Horus zu verscheuchen, bevor er größeren Schaden anrichtete. Die Taube flatterte davon, und Horus fauchte mich an. So viel zu diesem friedvollen Ort …
Ich hatte mich der Übertreibung schuldig gemacht, als ich Nefret erklärte, dass ich alles unter Kontrolle hätte. Ich hatte sie nicht unbedingt angelogen – ich lüge nur, wenn es unabdingbar ist –, sondern sie nur beruhigen wollen. Allerdings war so vieles passiert, dass man leicht den Überblick verlor. Und der Besuch des unsäglichen Mr. Smith hatte für weitere Komplikationen gesorgt.
Es wurde wirklich Zeit, dass ich eine meiner kleinen Listen machte.
Gleich nach dem Essen zog ich mich mit der Begründung zurück, ich müsse arbeiten – was ja auch stimmte. Sobald ich am Schreibtisch saß, begann ich, mein Blatt in Spalten zu unterteilen, die ich mit den Überschriften Kritische und unerklärliche Vorfälle, Theorien und Maß nahmen versah.
Die verschleierte Hathor von Kairo war der erste Vorfall. Drei mögliche Erklärungen fielen mir dazu ein: Erstens, sie war jemand aus Ramses’ Vergangenheit; zweitens, sie hoffte, in Zukunft eine Rolle für ihn zu spielen; drittens, es gab ein anderes Motiv als persönliche Anziehungskraft. Und ich hatte keine Ahnung, welches Motiv das sein könnte. Ich konnte lediglich eine systematische Analyse der Frauen vornehmen, die irgendwann und irgendwie mit meinem Sohn zu tun gehabt hatten. Ramses auf den Zahn zu fühlen, wäre der logische nächste Schritt gewesen, aber das hätte zu nichts geführt. Ich breitete einen weiteren Bogen Papier vor mir aus und begann zu recherchieren.
Nachdem ich fertig war, überflog ich diesen verblüfft.
Ich hatte gar nicht realisiert, wie viele es gewesen waren.
Zumal die Aufstellung bestimmt Lücken aufwies! Indes, einige Namen waren eine nähere Betrachtung wert. Eine Haarnadel fiel auf die Schreibtischplatte und eine Locke über meine Augen. Ich schob sie mit einem gezischten »Verflucht« zurück und rückte einige lose Haarnadeln zurecht. Tief in Gedanken habe ich die Angewohnheit, beide Hände an den Kopf zu pressen, mit katastrophalen Auswirkungen auf die Frisur.
Der Vorfall im Tempel der Hathor drängte sich mir als Nächstes auf. War es dieselbe Frau gewesen? Ein guter Detektiv muss sämtliche Möglichkeiten erwägen, aber es war kaum wahrscheinlich, dass es sich um zwei rachsüchtige Grazien handelte. Jedenfalls konnte Maryam nicht die zweite Hathor gewesen sein.
Der Vorfall hatte zumindest zwei handfeste Hinweise geliefert. Nefret hatte mir das zerknitterte weiße Gewand und Emerson den entdeckten Stofffetzen aus dem Tempel mitgebracht. Ich nahm das Gewand vom Haken, breitete es auf dem Schreibtisch aus und betrachtete es genauer.
Es war aus einfachem weißem Baumwollstoff, ziemlich ungeschickt von Hand zusammengenäht. Ich entdeckte mehrere Risse, der in Saumnähe stammte von Nefrets Pfeil, die an den Seitennähten vermutlich vom zu raschen Abstreifen. Absolut nichts Aufschlussreiches.
Der Stofffetzen, der im Mauerwerk klemmte, stammte nicht von der Robe. Das Material war ein völlig anderes – feinstes Leinen, plissiert. Es musste von dem Kleidungsstück sein, das sie unter der Robe getragen hatte, als sie über die Mauer geklettert war – ein hauchzartes,
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