Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Prinzessinnengrab anzuschauen. Cyrus zählt auf uns, wir sollen an seine Großzügigkeit appellieren, damit er Cyrus einen Teil überlässt. Gute Güte, er soll noch kleinlicher sein als der werte Monsieur Maspero, also …«
»Du wiederholst dich, Peabody.«
Er stand im Türrahmen.
»Du siehst gut aus«, lobte ich ihn. »Danke, Gargery.«
»Ich habe zu danken, Madam.« Gargery wirkte dermaßen geschmeichelt, als hätte ich ihn wegen seines Aussehens gelobt. Das konnte ich beim besten Willen nicht, denn er verlor sein Haar und seine Taille. Selbst in seiner inzwischen weit zurückliegenden Jugend hätte ihn gewiss keiner als attraktiv bezeichnet. Indes, von einem schönen Teller isst man nicht, und Gargerys Loyalität und seine Bereitschaft, im Ernstfall mit einem Knüppel zuzuschlagen, kompensierten sein Aussehen allemal.
Ich wünschte ihm eine gute Nacht. Emerson steckte einen Zeigefinger in den Hemdkragen und funkelte Gargery bitterböse an.
Unsere kleine Gruppe fand sich im Salon ein, wo ich jeden Einzelnen begutachtete. Emerson schnaubte abfällig, dennoch ist das Aussehen wichtig, und obschon der distinguierte französische Direktor der Antikenverwaltung unsere Bemühungen vielleicht gar nicht bemerken würde, wäre ihm ihr Fehlen gewiss aufgefallen. An Nefrets azurblauem Seidenkleid und dem Schmuck aus persischen Türkisen vermochte ich wahrlich nichts auszusetzen; sie hatte einen hervorragenden Geschmack und ein beträchtliches Vermögen – und die zusätzlichen Vorteile Jugend und Schönheit. Ramses verabscheute Abendgarderobe beinahe ebenso sehr wie sein Vater, dennoch stand sie ihm gut; trotz aller Versuche, seine Haare zu glätten, lockten und wellten sie sich zu seinem Leidwesen bereits wieder. Von mir selbst glaube ich sagen zu dürfen, dass ich ganz passabel aussah. Ich habe wenig Interesse an meiner optischen Erscheinung und kein Verständnis für irgendwelche Eitelkeiten. Ich hatte mir lediglich das Haar hochgesteckt und mich für ein Kleid in Emersons Lieblingsfarbe Dunkelrot entschieden.
Cyrus war berühmt für seine eleganten Abendgesellschaften. An diesem Abend war das Schloss, seine weitläufige und geschmackvolle Residenz am Eingang zum Tal der Könige, hell erleuchtet. Ganz der vollkommene Gastgeber, begrüßte Cyrus uns an der Tür, überhäufte uns mit Komplimenten und geleitete uns in den Salon, wo seine Frau und sein Stiefsohn uns erwarteten.
Von Katherine, inzwischen rundum glückliche Ehefrau und Mutter und vollkommene englische Dame, hätte man nie vermutet dass sie eine äußerst bewegte Geschichte hinter sich hatte – eine unglückliche erste Ehe und eine erfolgreiche Karriere als betrügerisches spiritistisches Medium. Bertie, ihr Sohn aus dieser Ehe, war mittlerweile Cyrus’ rechte Hand und begnadeter Assistent. Engländer wie seine Mutter, hatte er seinem Land im Ersten Weltkrieg treu gedient, bis er verwundet wurde. Während seiner Genesung in Luxor, in dem gastfreundlichen Zuhause seines Stiefvaters, hatte er angefangen, sich für die Ägyptologie zu interessieren. Seine Entdeckung des Prinzessinnengrabes sicherte ihm dauerhafte Anerkennung, doch hatte das seinen bescheidenen, zurückhaltenden Charakter nicht beeinflusst. Ich mochte den Jungen sehr und fand es nur schade, dass er sich das Haar über den Hemdkragen wachsen ließ und legere Schals um den Hals trug. Diese Mode passte einfach nicht zu seinem sachlichernsten englischen Naturell, gleichwohl schwante mir, was der Auslöser dafür war. Bertie war verliebt, und Jumana, seine Angebetete, weilte in dieser Saison nicht bei uns. Sie war die Tochter von Abdullahs Bruder Yusuf, eine bemerkenswerte junge Frau, überaus ehrgeizig und intelligent, und wir alle unterstützten sie in dem Bestreben, als erste Ägypterin ausgebildete Archäologin zu werden. Seit unserem ersten Aufenthalt in Ägypten hatte sich vieles geändert; der autodidaktische Exkavator gehörte der Vergangenheit an, und aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Nationalität brauchte Jumana die bestmögliche Ausbildung. Sie studierte in diesem Jahr am University College in London, unter den Fittichen von Emersons Neffen Willy und seiner Frau.
Bertie hatte nie von seiner Zuneigung zu dem Mädchen gesprochen, doch für eine Menschenkennerin wie mich war das sonnenklar. Ich bezweifelte nur, dass sie seine Gefühle teilte; Jumana war versessen auf ihre Karriere und der zurückhaltende, liebenswürdige Bertie gewiss kein Mann, der ein Mädchen umhaute. Wenn sie
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