Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Kanopen, Totenbücher. Ich schenkte Lacau ein zuckersüßes Lächeln und sagte ihm, wie gut er doch aussähe.
Mit Katherines Unterstützung gelang es mir, die Unterhaltung während des Essens so beiläufig wie möglich zu halten. Cyrus sorgte dafür, dass die Weingläser nie leer wurden, und Emerson verzichtete darauf, das Museum, seine Berufskollegen und die Antikenverwaltung zu kritisieren. Soll heißen, er hatte kaum Gesprächsstoff, und das war auch besser so. Nach dem Diner zogen wir Damen uns zurück, eine Unsitte in meinen Augen, die Lacau aber sicherlich zu schätzen wusste. Als die Herren zurückkehrten, brannte ich vor Neugier.
Unter normalen Umständen wären die Artefakte nach ihrer Restaurierung an das Museum gegangen. Allerdings waren die Umstände alles andere als normal. Aufgrund des Krieges litten Museum und Verwaltung unter Personalmangel; Lacau war die meiste Zeit gar nicht in Ägypten gewesen, und die politischen Unruhen im letzten Winter machten den Transport solcher Wertgegenstände riskant. Cyrus’ Haus bot die Sicherheit starker Mauern und gut bezahlter Wachleute sowie ausreichende Lager- und Laborkapazitäten. Genau dies konnte man von dem Museum nicht behaupten, es war schon jetzt überfüllt und unterbesetzt (ich hoffte nur, Emerson hatte dies nicht gegenüber Lacau erwähnt – was man womöglich längst weiß, möchte man nicht auch noch von anderer Seite bestätigt hören).
Wir strebten umgehend zu den Lagerräumen. Ich hatte die Artefakte schon vorher begutachtet, dennoch verschlug es mir den Atem. So wie sie jetzt aussahen, waren sie weit entfernt von dem unsortierten, verwitterten, zerbrochenen Inhalt der kleinen Kammer, die wir (Bertie, um genau zu sein) entdeckt hatten. Es war nicht das Originalgrab oder, präziser, die -gräber; nicht eine, sondern vier Gottesgemahlinnen hatten dort ihre letzte Ruhe gefunden. Als ihren Grabstätten Gefahr drohte, hatte man das Wichtigste entfernt und versteckt – die Mumien in ihren Innensärgen, die Gefäße mit den inneren Organen und andere tragbare Wertgegenstände. Einer der Sarkophage war aus massivem Silber, die Gesichtspartie fein ziseliert, umrahmt von einer schweren Perücke mit Krone. Die anderen Särge waren aus Holz, reich geschmückt mit Intarsien aus Halbedelsteinen. Kunstvoll geformte Masken aus Silber und Gold hatten die Häupter der Mumien bedeckt. Die Kanopen, vier für jede Prinzessin, waren aus bemaltem Calcit mit den eingeschliffenen Köpfen der vier Söhne des Horus, von denen jeder ein bestimmtes Körperorgan bewachte. Auf dem Tisch aufgereiht wie eine Miniaturarmee standen hunderte von Uschebtis, jene Figürchen, die dem Verblichenen im Jenseits dienen sollen – einige waren aus Fayence, andere aus Holz oder Edelmetallen. Verblüffend, was so alles in jener kleinen Kammer Platz gefunden hatte: Kessel aus Alabaster und Marmor, Silber und Gold, ein Dutzend geschnitzte und bemalte Truhen nebst Inhalt – Sandalen, Leinenballen und Schmuck. Glänzendes Gold und angelaufenes Silber, tiefblauer Lapis, Türkis und Karneol schimmerten im Schein des elektrischen Lichts.
»Erstaunlich«, murmelte Lacau. »Beeindruckend. Ich gratuliere Ihnen – Ihnen allen – zu einer bemerkenswerten Restaurierungsarbeit.«
»Daran waren wir wirklich alle beteiligt«, bekräftigte ich in der Erinnerung an einen stumpfsinnigen Nachmittag, an dem ich in einer Ecke der Kammer gekniet und hunderte winziger Perlen aufgefädelt hatte. Sie lagen in der Reihenfolge, wie sie von den morschen Originalfäden abgefallen waren, und indem ich sie an Ort und Stelle wieder aufschnürte, konnte ich das ursprüngliche Muster erhalten. »Allerdings«, fuhr ich fort, »hat Signor Martinelli sehr viel dazu beigetragen. Und wir danken Mr. Burton vom Metropolitan Museum für seine Unterstützung mit den Fotos. Wie er seine Kameras in dieser winzigen Kammer installieren konnte, grenzte an ein Wunder. Sie müssen wissen, Monsieur, die gesamte Kammer war vollgepackt, trotzdem gelang ihm eine Serie von Fotoansichten, ohne dass wir irgendetwas entfernen mussten.«
»Ja, ich habe mit ihm gesprochen.« Lacau nickte. »Eine schwierige Konstruktion aus langen Stäben und Stricken und der Himmel weiß was noch! Wir sind ihm und dem Metropolitan zu großem Dank verpflichtet.« Wie groß?, überlegte ich im Stillen. So groß, dass eine gewisse Anzahl von Artefakten nach Amerika gehen würde, durch Cyrus, dessen Sammlung letztlich einem der dortigen Museen zugute
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