Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
dich zu ihm«, sagte die Hausherrin.
»Du hast wirklich Mut«, lobte Ramses und klopfte ihm anerkennend auf die knochigen Schultern. »Aber du bist der einzige Sohn, nicht? Bleib hier. Erklär mir nur den Weg.«
»Er wird dich ein Stück begleiten«, sagte die weise Frau. »Vorbei an den Soldaten und in die Berge. Dort triffst du auf einen anderen Führer, einen von Tareks Wachleuten.«
»Unser König weiß, dass du hier bist«, erklärte der Vater. »Er wurde von uns informiert und hat eine Botschaft geschickt, über die Wege, die einzig uns bekannt sind. Steile, eng gewundene Pfade, nur geeignet für Ratten.« Seine Mundwinkel zuckten bei dem Begriff, den die bornierten Adligen für ihre Sklaven verwendeten.
»Dann sind sie auch für mich geeignet«, versetzte Ramses schnell.
Die Mutter hatte ein kleines Bündel mit Essen und Wasserflasche zusammengepackt. Der Junge schlang es sich über die Schulter. Seine Augen blitzten vor Abenteuerlust und Stolz.
Ramses platzte fast vor Neugier, brannten ihm doch unzählige Fragen unter den Nägeln – wie lange war Tarek schon entmachtet, wie war es zu seinem Sturz gekommen, wie effektiv wurde an seiner erneuten Machtergreifung gearbeitet – aber die Zeit lief ihnen davon, und bei Tagesanbruch würden sie sich verbergen müssen. Er überlegte fieberhaft. In der Sprache des Heiligen Bergs gab es keinen Begriff für Glück.
Die Alte hatte sich fest in ihren Umhang gehüllt. Nur ihre Augen waren erkennbar. »Mögen die Gottheiten euch beschützen«, murmelte sie.
»Und euch.«
»Sag dem König, dass wir bereit sind, sobald er Nachricht schickt.«
»Bereit«, wiederholte Ramses. »Bereit wozu?«
Ihm war sonnenklar, was sie meinte. Eine Revolution, ein bewaffneter Aufstand. Bewaffnet mit Stöcken und Steinen.
»Der König weiß es«, gab sie zurück. »Und jetzt geht, es ist spät geworden.«
In den nun folgenden Stunden bekam Ramses’ Selbstwertgefühl einen empfindlichen Dämpfer. Eigentlich hielt er sich für einen erfahrenen Bergsteiger, doch war ihm das Gelände unbekannt und die Nacht stockfinster. Zähneknirschend ließ er seinem kleinen Begleiter den Vortritt. Der Junge mied die Treppen und kletterte stattdessen entlang der Felsen, dicht in Höhe der Straße. Als er über die niedrige Brüstung spähte, sah Ramses, dass sie das Tal durchquert hatten und sich auf der Ostseite befanden, unterhalb der verlassenen Villa, wo er damals mit seinen Eltern gewohnt hatte. Keine Sekunde zu früh. Als er sich umblickte, bemerkte er flackernden Fackelschein im Tal. Im Dorf des Jungen war es nahezu taghell.
»Deine Familie. Wird ihr auch nichts geschehen?«, flüsterte er.
»Nein. Komm. Beeil dich.«
In der Nähe des Haupttempels und der Residenz bewegten sich weitere Lichter, aber die Allee über ihnen war dunkel und unbewacht.
Abermals musste er sich von dem Jungen hinaufhelfen lassen. Nachdem sie in geduckter Haltung über die Straße gehuscht waren, begann der nächste Aufstieg. Ramses verlor die Orientierung, während sie im Zickzackkurs über die Gesteinsformationen kletterten, zumal er sich auf jeden seiner Schritte konzentrieren musste. Er war kurzatmig und schwitzte trotz der nächtlichen Kühle, als sein Führer einen schmalen Sims erreichte.
»Wir bleiben hier. Das Boot der Gottheit wird bald die Segel setzen.«
Ramses war froh, dass er sich endlich lang ausstrecken konnte. Der Sims reichte unter einen Felsvorsprung und bildete eine niedrige Höhle. Es war ein ganz passables Versteck und bot Schatten während der heißen Mittagsstunden – aber vermutlich nicht genug.
»Bei Tag benutzt ihr diese Route nicht?«, erkundigte sich Ramses und nahm seinen Rucksack ab. Er bot dem Jungen die Datteln und das Brot an, das seine Mutter ihm als Reiseproviant eingepackt hatte.
»Nein, nur wenn es unbedingt sein muss.« Fahlgelbes Licht erschien über dem Sims. Die Sonne erhob sich über den östlichen Anhöhen. Sobald es heller wurde, musterte Ramses seinen Gefährten genauer. Ein typischer Rekkit, war er klein und schmächtig, dunkelhäutig, mit pechschwarzen Haaren. »Wie heißt du?«, wollte der junge Emerson wissen.
»Khat.«
»Und ich bin Ramses.«
Der Junge sah auf, seine Augen weiteten sich.
»Aber nein. Du bist der Einzigartige, der Freund, der zu den Göttern spricht.«
»Nicht jeder, der zu den Göttern spricht, wird erhört.« Gute Güte, dachte Ramses. Jetzt rede ich schon wie Mutter. Er beschloss, das Thema zu wechseln. »Bleiben wir bis zum Abend
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