Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Angst um Nefret zerrte an seinen Nerven. Allerdings war sein ursprünglicher Plan, über die Felswände die Fensteröffnungen zu erreichen, hinter denen er ihre Gemächer vermutete, illusorisch. Es würde zu lange dauern und er hatte anderes zu tun.
Er raffte die Enden seines Umhangs, stopfte sie in den Gürtel und tastete sich über die steile Treppe hinunter ins Dorf. Rings um ihn undurchdringliche Finsternis, hätte er die Stufen vorher nicht gezählt, hätte er nicht gewusst, wann er sich ihrem Ende näherte. Kurz davor blieb er stehen. Er hörte das Schnarchen eines Wachpostens. Offenbar rechnete der Bursche nicht mit irgendwelchen Zwischenfällen – oder dem Überraschungsbesuch eines Offiziers. Er bewegte sich leise murrend, als Ramses ihn behutsam im Nacken kitzelte. Darauf schlummerte er friedlich weiter und Ramses setzte seinen Weg fort.
Barfuß folgte er der mentalen Skizze, an die er sich minutiös erinnerte, zumal er es nicht riskieren mochte, seine Taschenlampe einzusetzen. Ringsum war alles still. Hinter einer scharfen Kurve sah er das Signal, auf das er kaum zu hoffen gewagt hatte – ein schwacher Lichtkegel hinter einem verhängten Fenster. Er hatte sich das Haus genau gemerkt. Er kratzte leise an der Fensteröffnung, bereit, um sein Leben zu rennen, falls er sich geirrt hätte. Der zerlumpte Vorhang wurde beiseite geschoben, enthüllte ein wachsames Auge und eine Strähne grauschwarzen Haars.
Ramses schob die Kapuze nach hinten. »Freund«, wisperte er.
Sie löschte das Licht, ehe sie ihn ins Haus ließ, und dichtete sorgfältig die Fensterritzen ab, bevor sie es wieder anzündete. Es war nur ein einziger Raum, mit ein bisschen Kochgeschirr und ein paar Matten auf dem nackten Boden, in einer Ecke ein Bündel Lumpen. Er bemerkte drei weitere Personen – einen etwa zehn- bis elfjährigen Jungen, ein schwangeres Mädchen und einen Mann, der sich von einer der Matten erhob. Als er, auf eine grob gezimmerte Krücke gestützt, zu Ramses humpelte, bemerkte der junge Emerson das entsetzlich entstellte Gesicht des Mannes und dass ihm ein Fuß fehlte.
»Freund«, sagte er und sein vernarbtes Gesicht verzerrte sich zu einem angedeuteten Grinsen. »Du bist gekommen.«
Ungelenk versuchte er sich hinzuknien wie die anderen. Ramses fasste ihn bei den Schultern. »Freunde knien nicht vor Freunden. Setz dich, entspanne. Was ist mit dir geschehen?«
»Ich habe eine Waffe gegen den Tyrannen erhoben. Eigentlich wollten sie mir dafür die Hände abhacken, aber ich bin ein geschickter Töpfer.«
»Grundgütiger«, murmelte Ramses. »Du hast die Lampe brennen lassen. Was, wenn ich heute Nacht nicht gekommen wäre?«
»Sie sagte, du würdest kommen.«
Plötzlich regte sich das Bündel, das er für einen Berg Lumpen gehalten hatte. Ein Gesicht wurde sichtbar – braun, ausgemergelt, in tausende Fältchen gelegt. Unwillkürlich wich Ramses einen Schritt zurück. In dem dämmrigen, flackernden Licht ähnelte das Individuum einer Mumie, die sich aus ihrer Umhüllung schälte.
Er hastete hinzu und streckte hilfsbereit den Arm aus. Eine klauenartige Hand griff danach, zwei trübe Augen starrten zu ihm auf. Es war die Dorfweise. Es gab immer solche Frauen, Heilerinnen und Seherinnen, Mittler zwischen dem Übersinnlichen und den niederen Menschen, denen der direkte Kontakt mit den allmächtigen Göttern verwehrt war. Im Europa des Mittelalters nannte man sie Hexen.
»Setz dich her, Mutter«, sagte er in der Hoffnung, dass der Titel akzeptabel sei. »Du hast mein Kommen vorausgesehen?«
Ihr gackerndes Lachen klang wie das Scheppern von rostigem Metall, gleichwohl war ihre Stimme energischer und weitaus gebieterischer, als er vermutet hatte. »Du glaubst mir nicht. Auch gut. Aber glaube mir eins: Tarek vertraut mir, ich bin seine Vertreterin in diesem Dorf. Kommen die anderen Einzigartigen auch?«
»Sie können nicht kommen. Noch nicht. Aber ich verspreche dir, wir werden den Heiligen Berg erst verlassen, wenn die Rekkit befreit sind und Tarek wieder auf dem Thron sitzt.«
»Bleibst du heute Nacht hier?«, wollte der Hausherr wissen. »Möchtest du etwas essen?«
»Er darf nicht bleiben«, gab die weise Frau zurück. »Sie werden überall im Dorf nach ihm suchen. Am Morgen kommen sie.«
Man brauchte kein zweites Gesicht, um sich das zusammenzureimen, dachte Ramses. Er nickte zustimmend. »Ich bin hergekommen, weil ihr mir Informationen geben könnt. Wo ist Tarek? Wie kann ich ihn erreichen?«
»Der Junge bringt
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