Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
schiefen Seitenblick zu Nefret setzte er hinzu: »Schätze, er starb in der Nacht. Die Leichenstarre hatte an den Füßen und Beinen bereits eingesetzt.«
Fachleute wissen, dass der fragliche Prozess von so unterschiedlichen Faktoren wie dem Klima und der körperlichen Verfassung des Toten abhängig ist. Trotzdem war Selims Feststellung ein konstruktiver Hinweis. Zumal er für sein Leben gern Detektiv spielte.
»Du hast eine hervorragende Beobachtungsgabe«, lobte Nefret. »Hat man ihn schon beerdigt?«
»Nein, Nur Misur. Er ist hier.«
Sie hatten ihn im Gartenschuppen auf einem Tisch aufgebahrt und pietätvoll mit einem frischen, weißen Leinentuch bedeckt. Fatima saß bei ihm. Der Lampenschein brach sich rötlich schimmernd in den Tränenspuren auf ihren Wangen.
»Ich wollte den Toten waschen, aber das hat Selim mir nicht erlaubt«, murmelte sie.
»Eine gute Entscheidung, Selim.« Ramses nickte anerkennend. Nefret hob das Laken. Es war ein gespenstischer Anblick: Die flackernde Beleuchtung warf zuckende Schatten auf den nackten, bleichen und skelettartig abgemagerten Leichnam. Die Hautfalten starrten vor Schmutz; eine Laus krabbelte über das schüttere graue Haar. Als peinliche Sauberkeitsfanatikerin fing Fatima leise an zu lamentieren, sobald Nefret sich anschickte, den Körper mit professioneller Gründlichkeit abzutasten.
»Er ist verdreckt und verlaust, Nur Misur. Lass mich das machen.«
»Ist schon in Ordnung, Fatima«, beschwichtigte Nefret. »Die Leichenstarre ist schon weit fortgeschritten. Keine Verletzungen im Gesichts- oder Schädelbereich. Der arme Mann hat jedoch unzählige Blutergüsse und Schürfwunden. Fatima, reich mir doch mal bitte ein feuchtes Tuch. Ich will mir die Schulterpartie genauer ansehen.«
»Er fiel oft hin, der Herr sei gnädig mit ihm«, murmelte Fatima.
»Die Prellungen an seinem Hals sind auch nicht gravierender als die anderen an seinem Körper«, berichtete Nefret. »Es gehört bestimmt nicht viel dazu, bei einem geschwächten alten Mann wie ihm einen Herzstillstand auszulösen«, warf Ramses’ Mutter ein.
»Ach was«, sagte ihr Gatte, plötzlich hellhörig geworden. »Du denkst immer bloß an Mord, Peabody.« Statt einer Antwort bedachte sie ihn mit einem vernichtenden Blick, doch Ramses wusste genau, was ihr durch den Kopf ging. Für die Emersons und nicht zuletzt auch für Sethos hatte sich der bedauernswerte alte Bettler zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt verabschiedet. Selim räusperte sich. »Den Männern, die ihn herbrachten, hab ich erklärt, dass er euch weggelaufen sei und dass ihr ihm helfen könntet.«
Nefret, die sich die Hände mit Seife schrubbte und in einer Schüssel Wasser abspülte, die Fatima ihr hinhielt, starrte ihn entgeistert an.
»Ihm helfen, dass er von den Toten aufersteht?«, fragte ihre Schwiegermutter bissig. »Da war er doch schon eiskalt und steif wie ein Brett, oder?«
»Sie sind überzeugt, dass du Wunder bewirken kannst.« Selim kratzte sich verlegen den Bart. »Er sollte heute Nacht beerdigt werden, aber sie glaubten mir, als ich sagte …« Verunsichert von ihrem Sarkasmus brach er ab, und Ramses kam ihm zu Hilfe.
»Du hast richtig gehandelt, Selim. Die genaue Todeszeit ist noch offen. Und sobald sich die Sache rumgesprochen hat, werden die Leute Fatimas Patienten mit dem alten heiligen Mann in Zusammenhang bringen – und der ist definitiv tot. Genau der richtige Augenblick für unseren Gast, mit einer neuen Identität auf den Plan zu treten.«
»Das war auch meine Überlegung«, bekräftigte Selim.
»Kommt, wir halten einen kleinen Plausch mit – ähm – ihm«, sagte Emerson und steuerte zur Tür. Über seine Schulter rief er: »Ramses, bring den Whisky mit.«
Als unsere Gäste zum Frühstück eintrafen, machten wir sie mit dem vorerst letzten Neuzugang in unserem Team bekannt: mit Anthony Bissinghurst. Sethos war in der Vergangenheit bereits in diese Rolle geschlüpft. Ramses hatte ihn mit einem verwegenen schwarzen Schnauzbart ausgestattet sowie Make-up, womit er seinem kränklich blassen Gesicht einen sonnengebräunten Farbton verlieh. Kleidung war kein Problem, da Ramses und sein Onkel in etwa die gleiche Statur hatten.
Ein komplizenhaftes Grinsen breitete sich auf Cyrus’ Zügen aus, sobald er Bissinghurst erkannte. Bertie und Jumana, die ihn sowohl in seiner Paraderolle wie auch als parasitäres Familienmitglied kannten, hatten wir zu absolutem Stillschweigen verdonnert; der arme Bertie, ohnehin nicht der
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