Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
Stufen geschaufelt haben.«
Dem gab es nichts hinzuzufügen. Und ich gestehe, werte Leser, ich war genauso gespannt wie er. Nach zwei Wochen Ungewissheit standen wir endlich kurz vor der Aufklärung. Ich vermochte mir lebhaft vorzustellen, in welcher Verfassung Howard sein musste. Ganz ohne Zweifel schuldeten wir ihm unsere freundschaftliche Unterstützung, vor allem auch, wenn das Grab leer wäre – was durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Am nächsten Morgen konnte ich den Professor überzeugen, zu einer halbwegs gesitteten Uhrzeit aufzubrechen, indem ich ihn darauf hinwies, dass es unangebracht sei, vor Seiner Lordschaft am Ort des Geschehens einzutreffen. Doch ich hatte Carnarvon unterschätzt. Als wir ankamen – Ramses und Nefret, Sethos, Emerson und ich – waren er und Lady Evelyn schon da und beobachteten die Arbeiter, die unter Howards Anleitung Schutt wegschippten.
George Edward Stanhope Molyneux Herbert, Fünfter Earl of Carnarvon, war mittelgroß, schlank und hatte ein Allerweltsgesicht. Seine Augen waren wässrig hell und seine von Windpockennarben gezeichnete Haut teigigunansehnlich. Von einem schweren Autounfall vor einigen Jahren hatte er sich nie wieder richtig erholt, obwohl die Winteraufenthalte in Ägypten seine Genesung förderten (und nicht zuletzt auch sein Interesse an der Ägyptologie).
Ich hatte Lady Evelyn bereits kennengelernt und fand sie schnippisch und oberflächlich – eben ein typisches Beispiel für eine junge, verwöhnte Aristokratin –, wobei ich zugeben muss, dass sie ein Händchen für geschmackvolle Kleidung hatte. Sie trug ein sportlich wadenlanges Kleid und flache Schnürschuhe in einem passenden Ockerton, dazu einen hübschen Schal um den Hals gebunden, mokkabraun wie ihr modischer Umhang.
»Wir wollten Sie in Luxor willkommen heißen«, sagte Emerson, während er Carnarvon fast die Hand zerquetschte. »Und Ihnen gratulieren.«
»Dann meinen Sie also auch, dass es viel versprechend aussieht?«, fragte Seine Lordschaft mit angehaltenem Atem.
»Für eine definitive Einschätzung ist es noch zu früh«, antwortete Emerson überlegt. »Genaueres weiß man erst, wenn der untere Teil der Tür zugänglich ist.«
»Aber Professor Emerson, seien Sie doch kein solcher Spielverderber«, kiekste die junge Dame. »Das ist ja alles so entsetzlich spannend! Und Papa ist wahnsinnig optimistisch.« Sie drückte den Arm ihres Vaters.
Emerson stöhnte gedämpft.
»Richtig«, versetzte ich. »Man sollte immer das Positive sehen. Können wir uns irgendwie nützlich machen? Wie Sie wissen, ist unser Sohn Fachmann für demotische Schriften.«
Da tauchte Howard auf, und Lady Evelyn schenkte ihm ein strahlendes Lächeln voller Bewunderung. Worauf er den Brustkorb aufplusterte wie ein balzender Gockel. »Ich besitze bestimmt die nötigen Kompetenzen, um eine Exkavation fachmännisch durchzuführen. Allerdings – ähm – falls noch weitere Siegel auftauchen, wäre ein zweites Gutachterurteil sinnvoll.«
Er nickte Ramses zu, der mit Grabesstimme kundtat: »Das mach ich selbstverständlich gern für Sie.«
Emerson spähte in den Schacht hinunter. »Den Fuß der Treppe erreichen Sie frühestens am Spätnachmittag.«
»Woher wissen Sie denn, wie viele Stufen es sind?«, erkundigte sich Lady Evelyn milde perplex.
Als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen, winkte der Vater der Flüche ab. Howard bedachte ihn mit einem schiefen Seitenblick. »Der Professor stützt seine These auf den Neigungswinkel der Treppenkonstruktion. Er ist typisch für Gräber aus dieser Periode, oder, Sir?«
»Hmpf«, grummelte Emerson und dehnte die Finger, als könnte er es kaum abwarten mit anzupacken. Natürlich war man nicht so unhöflich, uns zum Gehen aufzufordern. Auf dem Ohr wäre Emerson vermutlich auch taub gewesen, nachdem wir wochenlang auf Aufschlüsse gewartet hatten, ob der Durchlass schon einmal aufgebrochen worden war und was sich dahinter verbarg. Wir standen um den Rand der Treppe und verfolgten mit angehaltenem Atem, wie Stufe um Stufe in Sicht kam. Weiter unten wurden bereits die Konturen der Tür erkennbar, Details waren jedoch wegen des fehlenden Lichts nicht auszumachen. Schließlich rief Rais Gurgar zu uns hoch: »Sechzehn Stufen. Der Durchgang ist jetzt frei geschaufelt.«
Emerson fieberte wie ein Jagdhund, der eine Fährte wittert. Er riss sich jedoch zusammen und ließ Howard den Vortritt. Carnarvon und Lady Evelyn waren die Nächsten. Leises Gemurmel drang zu uns hoch,
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