Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
Daoud, ein großer stattlicher Mann mit kantigen Zügen, war das personifizierte schlechte Gewissen. Ramses klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Daoud. Dich trifft keine Schuld.« An seinem stillvergnügten Grinsen merkte ich, dass Ramses sich an ein vergleichbares Trinkgelage in seiner Kindheit erinnerte. Sein Zustand war allerdings nicht vergleichbar gewesen, da er den hochprozentigen Inhalt seines Magens wohlweislich auf dem Fußboden von Selims guter Stube entleert hatte, bevor wir das Dorf verließen.
»Sind Selim und Fatima unten?«, wollte ich wissen. »Bestimmt hatten sie Angst mit raufzukommen, hm? Sag ihnen, dass alles in Ordnung ist, Daoud. Schätze, ihr drei hattet genug damit zu tun, auf Carla aufzupassen.«
»Ich war ein ganz liebes Kind«, informierte Carla uns. Sie lief zu ihrer Mutter, die in einen Sessel gesunken war. »Stimmt’s, Mama? Nicht wie David John.«
Ich konnte es ihr nicht verübeln, dass sie ein bisschen aufschnitt. Für gewöhnlich war sie nämlich diejenige, die irgendwelche Katastrophen anzettelte.
Nefret strich ihr über die schmuddelig verschwitzten Locken. »Nein, das warst du nicht. Dass du auf die Palme geklettert bist, war nämlich keine gute Idee. Sie war schon halb oben, als Daoud sie wieder hinunterholte«, erklärte sie uns.
»Aber ich war nicht betrunken, Mama.«
»Da hat sie zweifelsfrei Recht«, grinste Emerson. »Komm und gib Großpapa einen Kuss, mein gutes Kind.«
»Um Himmels willen, sie starrt ja vor Schmutz!«, echauffierte ich mich. Mit spitzen Fingern fasste ich Carla am Kragen ihres Kleidchens, worauf sie zu maulen anfing. »Keine Widerrede, Carla, wir nehmen jetzt ein schönes Bad, und dann kommt der Opa und gibt dir einen Gutenachtkuss. Nein, Nefret, du bleibst sitzen. Du siehst erschöpft aus.«
Ein Tagesausflug zu Selims und Daouds Familie in das nahe gelegene Dorf Atiyeh hatte den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass die Kinder nach ihrer Rückkehr hundemüde waren und brav ins Bett gingen. David John schlief schon, als ich Carla Fatimas Obhut überließ und unserer Haushälterin nochmals versicherte, dass sie ihre Aufsichtspflicht keinesfalls verletzt hätte. Nachher kehrte ich in unseren Salon zurück, wo Emerson gerade zum gemütlichen Teil überging und den Whisky eingoss.
Wegen unserer vorgezogenen Abreise aus England waren wir vier die Einzigen unseres Exkavationstrupps, die sich in Ägypten aufhielten. Offen gestanden bestand unser Stab derzeit ohnehin nur aus uns vieren. Ramses’ bester Freund David, unser angeheirateter Neffe, wollte den Winter lieber in England mit seiner Frau Lia und ihren Kindern verbringen und sich einer vielversprechenden Karriere als Künstler und Illustrator widmen. (Der arme Junge hatte dies nur unter erheblichem Druck meinerseits eingeräumt und gegen Emersons heftigen Protest.) Emersons Bruder Walter und seine Frau, meine liebe Freundin Evelyn, die uns auf früheren Reisen begleitet hatten, waren nicht mehr aktiv in der Feldforschung tätig. Walters Hauptinteresse galt der Linguistik, und Evelyn ging förmlich auf in ihrer Rolle als Großmutter. Sie hatte jede Menge Enkelkinder (ehrlich gesagt hatte ich den Überblick verloren) von Lia und ihren anderen Söhnen und Töchtern.
Einige andere Personen, die wir gern angeworben hätten, hatten sich in der letzten Saison als Mörder entpuppt oder waren Opfer eines Mordes geworden – eine zugegeben nicht ungewöhnliche Konstellation bei uns. Selim, unser ägyptischer Vorarbeiter, war gewiss ein kompetenter Exkavator, der dem Gros europäischer Wissenschaftler bequem das Wasser hätte reichen können, und seine Crew hatte Emersons Methoden übernommen. Trotzdem brauchten wir meiner Meinung nach mehr Leute, zumal ich plante, Ramses und Nefret den Winter über in Kairo zu lassen, statt sie zu uns nach Luxor zu holen. Emerson hatte ich mein Vorhaben bislang wohlweislich verschwiegen, da er postwendend auf die Barrikaden gegangen wäre. Mein Mann liebt seinen Sohn und seine Schwiegertochter, was auf Gegenseitigkeit beruht, allerdings neigt er dazu, sie als kongeniale Mitstreiter zu betrachten, mit den gleichen Ambitionen und Interessen wie er selbst. Nachdem die beiden viele Jahre lang loyal mit uns zusammengearbeitet hatten, fand ich, dass sie endlich einmal ihre eigenen beruflichen Karrieren verfolgen sollten.
Ich ging davon aus, dass Emerson und ich nach Luxor weiterreisen würden, obwohl man sich da nie sicher sein durfte. Mein Mann hat nämlich die
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