Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
lassen. Wir sind ja schließlich nicht mehr unter Metternich!«
Ob der Polizist wusste, wer Metternich gewesen war? Jedenfalls schien er den Namen nicht mit Polizeistaat zu assoziieren, denn er mahnte Amelie bloß milde ab: Ausweispflicht bestehe nun mal für jeden, Inländer oder Ausländer. Schon gar, wenn die betreffende Person eine geschlagene halbe Stunde am Ballhausplatz Aufstellung nehme und sowohl das Regierungsgebäude als auch den Sitz des Staatsoberhauptes beobachte.
Eine halbe Stunde. War sie tatsächlich so lange hier gestanden? Amelie bedachte den Polizisten mit einem angedeuteten Nicken und machte sich aus dem Staub.
Ins Dorotheum, ja. Sie brauchte ein klar umrissenes Ziel. Sicheren Boden. Burgi Wechsler. Aber an Montagen war Burgi Wechsler nicht im Haus. Pro forma drehte Amelie eine Runde durch ein paar Ausstellungsräume und verließ das Auktionshaus.
Die fahle Sonne hatte sich verzogen; obwohl der Nachmittag kaum begonnen hatte, herrschte ein Licht, als wollte es Abend werden. Amelie nahm ein Taxi und fuhr zurück zum Laden. Als sie in Augusts immer frohes Teddygesicht sah, wurde ihr leichter ums Herz. »Servus, mein Patscherl, da bin ich wieder.«
Sie sperrte auf, machte Festbeleuchtung und holte August aus der Auslage. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, hielt den Bären auf dem Schoß und wiegte ihn, als wäre er ein kleines Kind. »Was meinst du: Soll ich aufhören mit dem Suchen?«, flüsterte sie in sein Fell. Ein paar Augenblicke später ließ sie ihn auf ihren Knien hopsen und lachte. »Nein, Augustle, gelt? Jetzt erst recht!«
In den folgenden Wochen stürzte sich Amelie in eine Art Doppelleben. Sie tat es mit Umsicht. Ging zur gewohnten Stunde ins Geschäft und schloss dasselbe zur gewohnten Stunde. Aber zwischendurch hängte sie immer öfter das Komme-gleich -Schild beziehungsweise ein neues mit der Aufschrift Wegen dringender auswärtiger Geschäfte von … bis … geschlossen an die Tür. Das von … bis umfasste niemals mehr als zwei Stunden. Und nie versäumte sie es, in den Stunden ihrer Abwesenheit den Anrufbeantworter anzustellen und dem Anrufer in lebensbejahendem Tonfall zu versichern, sie werde sofort nach Erledigung ihrer dringenden Geschäfte zurückrufen. Was sie auch gewissenhaft tat. Sie gab sich Mühe mit den Auslagendekorationen, ließ ihre Phantasie spielen und lieferte den spärlichen Schaufensterguckern, die ihre stille Gasse frequentierten, täglich einen neuen Augenschmaus.
Was sie in den Stunden ihrer Abwesenheit tat, behielt sie freilich für sich. Mit gutem Grund. Jeder, dem sie es sagte, würde sie für geistesgestört halten. Denn Amelie streifte durch die Innenstadt und hielt Ausschau nach Gehbehinderten.
Zunächst legte sie diese ihre Feldforschung weder alters- noch geschlechtsspezifisch an, sie wollte bloß ihren Blick fürs Hinken schärfen, wobei sie Menschen mit Krücken, auffallend Geschiente und Gipsbeinträger von vornherein glaubte, ausschließen zu können. Nach einigen Übungstagen grenzte sie ihre Beobachtungen auf Männer mittleren Alters ein. Solche, die einherlatschten beziehungsweise aus Nachlässigkeit oder Müdigkeiten hatschten, gab es haufenweise. Die Ausbeute an waschechten Hinkenden hingegen war mager. Schon gar in der gesuchten Kategorie. Davon war Amelie im Laufe einer vollen Woche bloß ein Einziger untergekommen.
Sie hatte eben eine ihrer Runden durch die Innenstadt gedreht, stand am Stephansplatz und war dabei, sich auf den Rückweg zum Laden zu machen, als ihr geübter Blick einen Gehbehinderten streifte, der in Richtung Wollzeile unterwegs war. Rückenansicht. Aktenkoffer, Kamelhaarmantel, Hut. Der Mann hinkte deutlich, er kam nur langsam voran, ein Leichtes für Amelie, ihn einzuholen.
Sie ließ sich Zeit, pirschte sich langsam an den Mann heran, verlor ihn trotz des Stroms von Passanten, der ihn manchmal verdeckte, nie aus den Augen. Immer näher rückte sie ihm. Ob der Jäger sich so fühlt, wenn er sich ans Wild anschleicht – erhöhte Adrenalinzufuhr, dumpfer Herzschlag, nichts außer Erlegen im Sinn…? Nun war sie dicht hinter ihm. Er war nicht sehr groß. Kleiner als X? Und zarter? Ihr Herzklopfen verebbte.
Der Verfolgte blieb vor dem Schaufenster eines Antiquariats stehen. Amelie trat neben ihn und musterte ihn von der Seite. Der Mann wandte sich ihr zu und lächelte sie an. Er hatte ein schmales, feines Gesicht, einen grauen Schnurrbart und gelbe Zähne. »Verzeihen Sie, ich…«, setzte Amelie an und
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