Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
der Ruhr, passe Cherusker perfekt.
Noch immer sagte Amelie nichts. Sie verschränkte die Hände im Nacken, schloss die Augen und beugte den Kopf zurück. Ihr halblanges Haar breitete sich schwer über ihre Schulterblätter. Uli sah, wie das dunkle Braun im Fallen glänzte.
»Du verschwendest dich an den falschen Mann. Was würde eine andere Frau mit deinen Augen, deinem Haar und deinem Gesicht alles anstellen«, sagte er fast anklagend.
Die Erinnerung an die federnde Brust des Mannes mit den Galoschen überkam sie, sie hob den Kopf und seufzte. »Uli, mein Alter, hör auf mit dem Unsinn, ich bin eine Durchschnittsfrau mit einem Allerweltsgesicht.«
»Unsinn, sagst du?« Uli sprang auf, fasste sie an den Schultern, sah sich nach dem Spiegel um und schob sie davor. »Schau gefälligst hinein. Was siehst du?«
Amelie begegnete Ulis Augen in ihrer beider Spiegelbild. Sie musterte seine ebenmäßigen, ein wenig weichen Züge, ehe sie sich selbst betrachtete. Das helle, fleckenlose Oval ihres Gesichts. Die gerade mittelgroße Nase. Den schwungvollen Mund. Starke kühne Augenbrauen, die auch in ein Knabengesicht passen würden. Große gewölbte Lider, durch deren dünne Haut ganz leicht das Violett ihrer Augen schimmerte. Aufs Neue begegnete ihr Ulis Blick.
»Du hast eine Figur wie eine Ballettelevin, einen Hals wie ein Tulpenstängel und ein Gesicht wie Anne Bennent. Damit könntest du die Welt aus den Angeln heben.« Er schüttelte den Kopf und ließ sie los.
»Du und deine Bennent«, murmelte Amelie und verzog das Gesicht. Sie wusste von Ulis Bewunderung für die Schauspielerin und zog ihn gerne damit auf. »Phänomenale Bühnenpräsenz, glasklarer Intellekt, ich habe noch nie ein besseres Käthchen von Heilbronn gesehen…«, äffte sie ihn nach.
»Haargenau. Und sie ist eine Schönheit«, trumpfte Uli auf. »Sie ist wie du, und du bist wie sie: eine Schönheit auf den zweiten Blick.«
Die Sonne hatte die gegenüberliegende Häuserfront verlassen. Mit ihr war Amelies Unrast verschwunden. Aber die Heiterkeit des Morgens stellte sich deshalb nicht wieder ein, und das Gespräch, das Uli mit der für ihn typischen Intensität führte, hatte sie seltsam müde gemacht. »Schönheit hin, Schönheit her, mein Aussehen hat mit meinem Verhältnis zu Hermann Nullkommajosef zu tun. Hermann legt auf Aussehen keinen Wert.«
»Eben, eben! Das ist ja die Tragödie!« – Uli schraubte seine Stimme höher, wodurch sie schriller wurde. »Er sollte dich anbeten. Nicht nur weil du bist, was du bist, sondern weil du bist, wie du bist. Den Boden, auf dem du wandelst, müsste er küssen, auf Händen müsste er dich tragen, wie eine Königin…«
Amelie verzog das Gesicht. »Hör auf, mein Alter, du wirst theatralisch. Laienbühne. Schlechtes Stück.« Uli sah verletzt drein, augenblicklich lenkte sie ein. »Was hast du eigentlich gegen Hermann?«, fragte sie.
Mühelos ließ Uli sich ablenken. »Nichts habe ich gegen ihn, nicht das Geringste. Ich würde nicht mit ihm auf Urlaub fahren wollen, aber ich finde ihn nicht unnett. Bloß: Er ist nicht gut genug für dich.«
»Jetzt mach aber halblang«, schnaubte Amelie verärgert, Hermann war ihre Wahl, in ihm fühlte sie sich selbst angegriffen. »Immerhin ist er Doktor der Germanistik und Chef eines der wichtigen Archive der Stadt. Und wenn sein Roman fertig sein wird…« Sie brach ab, ging zu dem Regal mit den alten Kinderbüchern und nahm eines zur Hand. »Ich hab heute außer dem Wirklichen Hofrat nicht eine einzige Kundschaft gehabt. Willst du mich nicht subventionieren, indem du mir das abkaufst? Eine alte Ausgabe vom Struwwelpeter . Als Mitbringsel für Ludwig.«
Verdutzt sah Uli sie an. »Was soll der Ludwig mit dem Struwwelpeter , glatzig, wie er ist?«
»Mensch, Uli, die Geschichte von den Tintenbuben! Kannst du dich an die Bilderbücher deiner Kindheit nicht mehr erinnern«, ereiferte sich Amelie. »Da kommt doch ein Ludwig drin vor!«
Als Uli sichtlich nichts dämmerte, begann Amelie zu rezitieren. »›Es ging spazieren vor dem Tor ein kohlpechrabenschwarzer Mohr. Die Sonne schien ihm aufs Gehirn, da nahm er einen Sonnenschirm. Da kam der Ludwig hergerannt und trug sein Fähnchen in der Hand…‹« Na? Uli begann zu schmunzeln, erfreut fuhr Amelie fort. »Du weißt doch, zum Schluss taucht der große Niklas mit dem Rauschebart den Ludwig und seine Freunde ins große Tintenfass, weil sie den Mohren verlacht haben. »›Er packte gleich die Buben fest, beim Arm, beim
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