Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
Künstlercafé Hawelka betreten. Alle Tische waren besetzt gewesen. Rauchschwaden, Stimmengewirr, hier schien jeder jeden zu kennen. An einem einzigen Tischchen saß ein Einzelgänger. Groß, hager, hohlwangig, dichtes, helles, kühn gewelltes Haar. Der Einzelgänger schrieb mit einem altmodischen Füllfederhalter in ein schwarzes Buch. »Ist hier noch frei, bitte?«, hatte Amelie gemurmelt und auf den Stuhl neben dem Einzelgänger gedeutet. Der Mann hatte aufgesehen. Intensiv blaue Augen, freundlicher Blick, »bitte sehr, gerne«, hatte er mit deutschem Akzent und tiefer, voller Stimme geantwortet. Irgendwie hatte Amelie sich in dieser Stimme geborgen gefühlt.
Im Kielwasser von Max Klinger, einem mittelmäßigen Maler, war sie eben erst von München nach Wien gezogen. Max war der zweite Mann in Amelies jungem Leben gewesen. Kaum in Wien, hatte er sie sitzengelassen. Weidwund wie sie war, hatte Amelie sich dennoch entschlossen, in Wien zu bleiben. Der bewundernde Blick des Einzelgängers vom Hawelka tat ihr wohl. Hermann Söhnke, von der Ruhr an die Donau gekommen, um hier sein Studium der Germanistik zu be und seinen historischen Roman aus der Zeit der Völkerwanderung zu vollenden. Junger Dichter. Von Romantik umwittert. Wunderschöne Hände…
Er ist erst achtunddreißig und sieht schon jetzt pensionsreif aus, dachte Amelie, fand sich gleich darauf unnett, rief sich innerlich zur Ordnung und fragte den immer noch kauenden Hermann bemüht freundlich: »Bist du noch nicht satt?«
Statt einer Antwort deutete Hermann auf Amelies kaum berührten Teller. »Schmeckt großartig, Amelie. Falls du deines nicht zu Ende isst, tue ich es für dich.« Er lächelte sie an, sie lächelte nicht zurück. Hermann hatte die Angewohnheit, ihren Namen auf der ersten Silbe zu betonen. Im Gegensatz zu ihrer Familie und ihren Freunden, die sie Ameliè nannten, sagte er beharrlich Amelie, wobei er auch noch das erste »e« verschluckte und sie derart zu einer »Amlie« machte. Früher hatte sie das nicht gestört, erst in letzter Zeit verursachte es ein Gefühl, das sie als »Knopf im Magen« bezeichnete.
Wortlos stand sie auf, ging in die Küche und begann das Geschirr zu waschen. Heftig rieb sie den Boden der Bratpfanne. Der »Knoten im Magen« löste sich. ›Du bist ein Sauviech, Amelie, er kann ja nix dafür, dass er dir auf die Nerven geht. Er ist lieb. Also reiß dich zusammen.‹
Hermann betrat die Küche, stellte die leer geputzten Teller auf die Tropftasse und strich über Amelies Nacken und Rücken. Sie gab sich Mühe, die Hand nicht abzuschütteln. »Setz dich draußen hin, bitte, ich bin gleich fertig«, sagte sie und seufzte erleichtert, als er ging.
Hermann hatte den Fernsehapparat angeschaltet. Sowie sie den Raum betrat, schaltete er ihn wieder ab. »Was ist, schlechtes Programm?«, fragte sie und spürte die innere Anspannung wiederkehren.
Genüsslich räkelte Hermann sich in dem einzigen Lehnstuhl, den es in Amelies Wohnung gab. »Ich dachte an ein Hauptabendprogramm da oben.« Er deutete mit dem Daumen auf den Hängeboden, der über eine Art Hühnerleiter zu erreichen war und Amelies Bettstatt barg. »’n Stündchen Liebe?«, schlug er vor, stand auf, trat auf sie zu und nahm sie in die Arme, als hätte sie Ja gesagt.
Amelie schob ihn von sich. »Weshalb nicht zwei oder drei«, biss sie ihn an und fand sich abscheulich.
Hermann trug es mit Fassung, griff neuerlich nach ihr, zog sie an sich und rieb sein Kinn, das auf Amelies Scheitel zu liegen kam, sachte in ihrem Haar. »Weil ich Reich-Ranicki sehen will, Schatzi, und der geht in eineinhalb Stunden auf Sendung.«
Die Zärtlichkeit in seiner Stimme erreichte Amelie nicht. Sie machte sich so heftig von ihm los, dass der große, kompakte Mann ins Schwanken geriet.
»’n Stündchen Liebe und dann Reich-Ranicki«, äffte sie ihn nach. Als er die Hände nach ihr ausstreckte, wich sie weiter zurück. »Eine schwere Konkurrenz für eine Frau wie mich, der Reich-Ranicki. Und was kommt nach ihm? Sex and the City? «
Hermanns Augen waren vor Erstaunen rund geworden, tonlos klappte er den Mund auf und wieder zu. »Schnapp nicht nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen«, fuhr Amelie unbarmherzig fort. »Einmal muss es raus aus mir: Dein deutscher Ordnungssinn im Alltag und in der Lebensplanung hängt mir zum Hals heraus.«
Hermann fand noch immer keine Worte, er sah mittlerweile drein wie ein verletztes Kind. Und Amelie setzte noch eins drauf. »Liebe, wenn’s das
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