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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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niemand etwas anhaben, zumindest würde er pitschnaß dabei. Das Wasser war lauwarm und hatte die Farbe von Tee aus einem zweimal überbrühten Beutel. Ein feiner gelblicher Film haftete auf der Oberfläche. Kaum eine Strömung war zu spüren. Trotzdem verlor er in dem Moment, als er den zweiten Fuß vom Ufer hob, das Gleichgewicht, und nur eine rasche Reaktion und ein dünnes, brüchiges Schilfrohr verhinderten, daß er kopfüber ins Wasser kippte. Ihm wurde klar, daß er seine huaraches ausziehen mußte - sie hatten keinerlei Haftung, waren glatt wie die alten Gummireifen, aus denen die Sohlen herausgeschnitten worden waren - und sich barfuß weitertasten mußte. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Wer wußte schon, was da unten war - Schlangen, Glasscherben, diese ekligen bleichen Wasserkäfer, die einen Frosch totbeißen und aussaugen konnten, bis nur noch die Haut übrigblieb? Er watete rückwärts aus dem Wasser, ließ sich auf den Boden fallen und zog die Sandalen aus.
    Als er wieder hineinging und sich dabei an den Vorsprüngen der Cañonwand festhielt, hingen die huaraches um seinen Hals, den Rucksack trug er wieder auf dem Kopf. Das Wasser erreichte seine Knie, seinen Schritt, seine Hüfte, und schließlich ging es ihm bis zu den Achseln, was bedeutete, daß América würde schwimmen müssen. Daran dachte er, während seine Zehen sich durch den Schlick tasteten, stellte sich vor, wie América schwamm, ihr nasses Haar um die Schultern floß, ihr Kleid in der schmalen, hübschen Hand zusammengeknüllt und hoch in die Luft gehalten, und der Gedanke machte ihn scharf - ein sicheres Zeichen, daß er langsam gesund wurde.
    Am anderen Ufer fand er, was er suchte, direkt hinter dem Autowrack. Dort gab es eine kleine Sandfläche, einen Privatstrand, der groß genug war für eine Decke und eine Art Wetterschutz - ein kleines Dach vielleicht -, dahinter schloß sich der Cañon wie eine Faust. Eine jähe Felswand, über zehn Meter hoch, erhob sich aus dem Tümpel und bildete weiter oben einen Einschnitt, aus dem der Bach als stete Dusche aus der Luft heruntersprühte. Das Licht war durch die Vegetation weiter oben gefiltert und gedämpft, und was Cándido dort vor sich sah, war nicht Fels und Laub und Sand, sondern ein Wohnzimmer, in dem eine große abgeschirmte Lampe von der Decke hing, mit Sofas und Sesseln und einem schimmernden Holzboden, der frisch mit Wachs gebohnert war. Es war eine Offenbarung. Eine Vision. Einen Pilger hätte so ein Ort vielleicht dazu inspiriert, einen Schrein zu errichten.
    Cándido stellte den Rucksack ab und rastete auf dem warmen Sand, bis seine Kleider etwas getrocknet und einheitlich klamm waren. Dann stand er auf und begann einen primitiven Herd zu bauen, schichtete Stein für Stein aufeinander, und in seiner Aufregung, in der Hitze des Augenblicks, vergaß er alle Schmerzen. Als es getan war, als er den Kreis fertiggestellt und das verbogene Kühlschrankgitter ordentlich darübergelegt hatte, fand er sogar noch die Kraft, Feuerholz zu sammeln - Hauptsache, er blieb in Bewegung -, und dann dachte er daran, was América wohl am Abend mitbringen würde. Das hieß, falls sie Arbeit gefunden hatte. Und natürlich mußte er an der alten Stelle auf sie warten, und sie würden mit den Sachen durch den Bach waten müssen ... aber vielleicht hatte sie Tortillas oder ein Stück Fleisch und Zutaten für einen Eintopf, etwas Gemüse und Reis oder ein paar Kartoffeln ...
    Es hatte kein Frühstück gegeben, gar nichts, nicht einmal einen Zweig zum Draufrumkauen, und er war so hungrig wie noch nie in seinem Leben, aber der Hunger spornte ihn an, und während der Stapel aus wassergebleichten Stöcken langsam anwuchs, hatte er eine Idee: Er würde sie überraschen, genau das würde er tun. Mit einem richtigen Camp. Mit etwas Solidem und Festem, mit einem Platz, den sie Zuhause nennen konnten - zumindest bis er wieder auf den Beinen war und Arbeit gefunden hatte und sie ihre eigene Wohnung in einer netten Gegend mit Bäumen und Gehsteigen und einer Auffahrt für das Auto hatten, das er ihr kaufen wollte, und er konnte diese Auffahrt vor sich sehen, frisch asphaltiert, ordentlich angelegt, der Abstellplatz mit knallgelber Farbe markiert ...
    In einem Gewirr von Zweigen im Wasser fand er etwas Zwirn - oder war es eine Angelschnur? - und zwei schwarze Plastiktüten, mit denen er das Dach decken konnte. Die Hüfte und das Knie schmerzten noch immer und auch die Rippen, wenn er sich streckte, aber er war jetzt

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