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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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fand? Was dann? Auf einmal wurde Cándido eifersüchtig und besitzergreifend: dieser Dreckskerl! Hier gab es eine ganze Gebirgskette, überall waren Cañons - unzählbar viele -, weshalb mußte der sich ausgerechnet diesen hier aussuchen? Der Zorn trieb ihn an - und die Sorge. Er atmete schwer, Hüfte und Knie taten ihm weh, und unter der Schorfkruste, die seine linke Gesichtsseite bedeckte, pulsierte es. Er ging weiter, zwang sich dazu, bis er plötzlich an einem Reifenquietschen merkte, daß die Straße direkt über ihm war, und er legte eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen.
    Dann trat er aus den Büschen und war auf der Straße, wo der Verkehr an ihm vorbeiraste, in gringomäßig wahnwitzigem, schlußlichtjagendem Tempo - warum überhaupt diese Eile, diese ständige Eile? Um Dollars heranzuschaffen, darum. Um ihre gläsernen Bürotürme zu bauen und die Zahlen auf ihren dunklen kleinen Fernsehschirmen zu addieren, um reicher zu werden - darum die Eile. Deshalb hatten die gabachos Autos und gute Kleider und Geld und die Mexikaner nicht. Er wanderte die Schnellstraße entlang und hatte ein komisches Gefühl - hier war er angefahren worden, genau hier -, und er spürte den kalten stählernen Wind eines vorbeirasenden Autos im Rücken. Jemand drückte auf die Hupe, und er fuhr fast aus der Haut. Er sah den roten Lichtern nach und fluchte ihnen leise hinterher.
    Als erstes sah er auf dem Parkplatz bei dem Chinesenladen nach, aber América war nicht da. Um diese Zeit waren überhaupt keine Mexikaner dort, kein einziger - man konnte meinen, sie seien alle in die Erde versunken, wie diese giftigen Pilze, die nach dem Regen sprießen und bei Sonnenuntergang wieder verschwinden. Statt dessen wimmelte es von norteamericano s, ganze Horden von ihnen stiegen aus ihren Autos und wieder ein, drängten in den Laden und wieder heraus, mit ihren braunen Papiertüten voller Bier und Wein und kleinen süßen Sachen zum Essen. Sie sahen Cándido an, als hätte er Lepra.
    Weiter die Straße hinauf, vorsichtig, ganz vorsichtig, nach beiden Seiten blicken, dann hinüber. Niemand fuhr den Cañon herunter, alle wollten hinauf, ein endloser, erbarmungsloser Strom, genügend Autos, um zwanzig große Schiffe zu füllen und zurück nach Japan zu schicken, wo sie ja alle hergekommen waren. Dort oben gab es ein kleines Einkaufszentrum, das mit dem größeren Supermarkt und dem paisano aus Italien. Dorthin würde América gehen, falls sie ihn unten verpaßt hatte, oder falls - und der Gedanke durchzuckte ihn mit der plötzlichen Kraft der Inspiration -, falls sie Arbeit gefunden hatte. Vielleicht war es das. Vielleicht sorgte er sich ganz umsonst. Vielleicht hatte sie Geld verdient, und sie könnten Essen einkaufen.
    Essen. Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, und kurzfristig wurde ihm schwindlig - ganz kurz, nur einen Moment lang, aber es genügte, um ihn taumeln zu lassen, gegen einen großen, ungeschlachten gabacho mit Koteletten, die sein halbes Gesicht bedeckten, und hoch auf dem Kopf aufgetürmtem, glänzendem Haar, wie Elvis auf einem dieser kitschigen Wandbilder aus schwarzem Samt. Der Mann schob ihn beiseite, ein brutaler Stoß mit beiden Armen, und sagte etwas Böses, Gehässiges, sein Gesicht explodierte nahezu. »Entschuldig, entschuldig«, brabbelte Cándido, warf die Hände in die Höhe und wich zurück, aber jetzt sahen sie ihn alle an, alle gabachos auf dem Parkplatz, und er wäre gern weggelaufen, aber seine Beine trugen ihn nicht.
    Um sechs Uhr, als die Sonne immer schräger im Westen stand und die Schatten der Bäume wie Traumbilder gegen die Fenster anrückten, arbeitete América. Noch immer. Obwohl die sechs Stunden um waren und der dicke Mann nirgends zu sehen war. Candelario Pérez hatte gesagt: sechs Stunden Arbeit, fünfundzwanzig Dollar, doch jetzt waren acht Stunden vorbei, und sie fragte sich, ob das wohl hieß, daß der Dicke ihr dafür auch mehr zahlen würde. Fünfundzwanzig durch sechs waren vier Dollar und sechzehn Cent pro Stunde, also müßte sie für zwei Extrastunden noch - genau acht Dollar zweiunddreißig bekommen. Bei dem Gedanken strahlte sie. Sie verdiente Geld, Geld für Essen, für Cándido und ihr Baby - sie, die in ihrem ganzen Leben noch keinen Centavo verdient hatte. Im Haus ihres Vaters war natürlich genug zu tun gewesen, da hatte sie gekocht, geputzt und Botengänge für ihre Mutter erledigt, und dafür auch ein Taschengeld bekommen, aber das war etwas anderes, nicht zu

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