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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gibt's auch, oder?«
    Als der Fremde sich ein Stück drehte, um die Schlucht zu inspizieren, sah Cándido, daß er eine zusammengerollte Decke an einem Stück Schnur über der Schulter trug. Cándido wollte ihn auf keinen Fall zum Bleiben ermutigen - wenn sich das herumsprach, wäre bald die ganze Arbeitsvermittlung hier unten. »Nur ganz wenig«, gab er zurück.
    Das war lustig. Der Mann stieß ein bellendes Lachen aus und zeigte beim Grinsen ein billiges Gebiß. »Na, wenn man dich so ansieht, Alter, dann reicht's aber immerhin zum Baden, was?«
    Cándido hielt seinem Blick stand. Er zuckte die Achseln. »Die Stelle bringt kein Glück. Ich hab da unten gelagert, aber vor drei Tagen bin ich überfallen worden. Von gabachos. Sie haben dreckige Parolen auf die Felsen gesprüht. Da übernachte ich bestimmt nicht wieder.«
    Vögel flatterten von Strauch zu Strauch. Die Sonne stand still. Der Mann ließ sich Zeit. »Und von denen hast du das da im Gesicht? Und den kaputten Arm?«
    »Ja. Oder nein - das war vorher.« Wieder zuckte Cándido die Achseln und sah auf die schmutzige Schlinge, in der sein linker Arm lag. Dem Arm ging es besser, sehr viel besser, trotzdem hatte er höchstens anderthalb Arme gegen die zwei des Fremden - falls es soweit kam. »Ist 'ne lange Geschichte«, sagte er.
    Der Fremde schien die Sache abzuwägen. Die Arme vor der Brust verschränkt, studierte er Cándidos mitgenommenes Gesicht, als wäre es der Schlüssel zu einem Rätsel. Er machte keine Anstalten, beiseite zu treten und Cándido vorbeizulassen - er war Herr der Lage, und er wußte es. »Und wo sind deine Sachen?« wollte er wissen, wobei seine Stimme sich wieder überschlug. »Ich meine, wenn du die Wahrheit sagst. Du hast keine Decke, nichts zum Kochen, kein Geld, das du irgendwo in 'ner Büchse versteckt hast? Na? Nichts in den Taschen?«
    »Alles geklaut«, log Cándido. » Pinche gabachos. Ich hab mich in den Büschen versteckt.«
    Die Zeit verrann unendlich langsam. Cándido schob die Hand in die Tasche und fühlte das Metall seines eigenen armseligen, verrosteten Springmessers, das er sich besorgt hatte, nachdem América an der Grenze von diesen Dreckskerlen angefallen worden war. »Hör mal«, sagte er und versuchte damit, die Lage unter Kontrolle zu bekommen, ohne den anderen irgendwie zu provozieren - dem Burschen war er nicht gewachsen, nicht in seiner momentanen Verfassung -, »es war nett, mit dir zu reden, ich quatsch immer gern mit 'nem compañero, aber jetzt muß ich weiter. Muß mir für heute nacht noch 'nen Platz zum Schlafen suchen ... du weißt nicht irgendwas, oder? Wo es sicher ist?«
    Keine Antwort. Der Fremde starrte über Cándidos Kopf hinweg in die gähnende Leere der Schlucht und klopfte sich zerstreut auf die Brusttasche, bevor er hineingriff und ihr einen einzelnen Kaugummi in mattsilberner Alufolie entnahm. Langsam und beiläufig, als hätte er unendlich viel Zeit, schob er den flachen Kaugummi zwischen die dünnen Wülste seiner Lippen und begann zu kauen, während er die Verpackung mit der Hand zerknüllte, als wollte er sie erwürgen. Cándido sah zu, wie die Folie aus seinen Fingern in den feinen weißen Staub auf dem Weg fiel.
    »Ich könnte auch was zu essen gebrauchen«, hakte Cándido nach und sah ihn mit bittendem Blick an, dem Blick eines Hundes, eines Straßenbettlers. »Du hast nicht zufällig irgendwas zum Beißen dabei?«
    Nun betrachtete ihn der Mann wieder, durchbohrte ihn mit diesen seltsamen braunen Augen: Cándido hatte den Spieß umgedreht - jetzt stellte er die Fragen. Der Fremde wirkte auf einmal verlegen, seine Kiefer malmten behutsam auf dem Kaugummi herum, und Cándido dachte an seinen Großvater, der mit fünfzig nur mehr Brei hatte essen können, weil sein billiges Gebiß kaputt war und so schlecht paßte, als hätte es ein Nazi-Folterknecht entworfen. Der Augenblick war vorüber, die Bedrohung ausgestanden.
    »Tut mir leid, 'mano«, sagte der Mann, und dann schob er sich an Cándido vorbei und ging den Pfad hinunter. Das letzte, was Cándido von ihm sah, war der Schirm der umgedrehten Mütze, der hinter der Ecke verschwand, und er war sich nicht sicher, ob der Fremde nach hinten oder nach vorn blickte.
    Verstört wandte sich Cándido um und setzte seinen Aufstieg fort. Jetzt mußte er sich auch noch darüber Sorgen machen, daß dieser stinkende pendejo mit den schlechten Zähnen im Cañon herumschnüffelte - als hätte er nicht schon Probleme genug. Und wenn der Kerl nun ihr Camp

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