América
Sklave seines Plans, und als die Sonne hinter der Kante der Felswand verschwand und eine künstliche Dämmerung erzeugte, stand auf dem Sandstrand hinter den rostigen Überresten des Autos ein robuster Verschlag aus ineinander verwobenen Ästen: ein Werk, auf das er stolz sein konnte.
Erschöpft von der Anstrengung döste er ein, und als er aufwachte, zeichnete sich nur noch eine schwache Patina von Sonnenlicht auf dem östlichen Rand des Cañyons über ihm ab. Schläfrig sah er sich um, von einem trügerischen Wohlgefühl durchdrungen, und dann durchfuhr es ihn: América. Wo war sie? Sie war nicht da ... andererseits: wie sollte sie auch? Das hier war nicht ihr altes Lager, diesen Platz kannte sie gar nicht. Er rappelte sich auf, wobei der Schmerz ihm die Klauen in die Hüfte trieb, und fluchte laut. Es mußte vier, fünf Uhr sein. Bestimmt war sie schon da, weiter unten am Bach, suchte nach ihm, und wie konnte sie daran zweifeln, daß er sie verlassen hatte?
Immer noch fluchend, ständig fluchend, stürzte er sich in den Tümpel und hastete durch das trübe Wasser, mit pochendem Herzen und ohne Rücksicht auf seine Kleider. Er rannte den Bach entlang, so schnell ihn seine Hüfte rennen ließ, hektisch jetzt, in Panik - und endlich bog er um die Kurve zu ihrem alten Lagerplatz: Sie war nicht da. Die Blätter hingen schlaff von den Bäumen, der Bach schien stillzustehen. Keine Spur von ihr, kein Zettel, kein Steintürmchen oder Gekritzel im Sand. Das war muy gacho, verdammt schlecht. Zum Teufel mit seinem ganzen beschissenen Leben. Zum Teufel damit.
Er schleppte sich den Berg hinauf - zum ersten Mal seit seinem Unfall, jeder Schritt eine Kreuzigung, aber hatte er denn eine Wahl? Nach kaum dreißig Metern mußte er anhalten und Atem schöpfen. Seine Sachen hingen feucht an ihm herunter - und er hatte abgenommen, ziemlich sogar, in den neun Tagen, die er auf dem dreckigen Sand gelegen und nichts gegessen hatte außer ein paar Resten und etwas Gemüse, wie ein ausgedientes altes Klappergestell in einem Pflegeheim. Er spuckte auf die Erde, biß die Zähne zusammen und ging weiter.
Die Sonne brannte hier oben immer noch herab, obwohl es mindestens schon sechs war; es war heißer als unten in der Schlucht. Trotz seiner nassen Sachen schwitzte er, und er mußte die Hände einsetzen - jedenfalls die eine gesunde Hand -, um die schwierigen Stellen zu überwinden. Auf halber Strecke, an der Stelle, wo der Pfad sich nach rechts wandte und einen großen schroffen Brocken aus rötlichem Fels umrundete, erwartete ihn eine Überraschung. Eine böse Überraschung. Als er um die Ecke bog und einen raschen Blick den Weg hinauf warf, sah er, daß er nicht allein war. Von oben stieg ein Mann herunter, ein Fremder, mit langen Schritten und mechanischen Bewegungen, bei denen sich seine Hüfte seltsam weit vorschob, als gehörte sie einem anderen. Cándidos erste Reaktion war, sich ins Gebüsch zu ducken, aber es war zu spät: schon stand der Mann vor ihm, lehnte sich gegen die steile Wand wie ein Insekt, das einen Grashalm hinabkrabbelt.
»Hey, 'mano«, sagte der Mann, und seine Stimme klang schrill und rauh wie der Schrei eines Habichts. »¿Qué onda? Wie geht's so?« Er war in der Mitte des Pfades stehengeblieben, der kaum einen halben Meter breit war, ein großer, hellhäutiger Mann, der auf dem Abhang noch größer wirkte, und er sprach die Sprache der Grenze, das Spanisch der schummrigen Gassen und cantinas von Tijuana. Er trug eine Baseballmütze verkehrt herum auf dem Kopf, und seine Augen hatten eine Farbe, die Cándido nicht recht benennen konnte, irgendwo zwischen gelb und rot, wie zwei Wunden mitten im Schädel. Es war einer der vagos von der Arbeitsvermittlung, genau, daher kannte er ihn. Und er hatte bestimmt ein Messer in der Tasche oder im Gürtel hinten im Rücken.
»Buenas«, murmelte Cándido und behielt den Mann im Auge, obwohl er weiß Gott nichts bei sich hatte, was sich zu stehlen lohnte, bis auf die Kleider, die er trug - und die waren schon so oft gewaschen und geflickt, daß sie nicht mehr als ein paar Centavos in einem Trödelladen bringen würden. Aber man konnte nie wissen: manchmal stahlen sie einem das Hemd aus purer Gemeinheit.
»Wie lebt sich's denn da unten, Bruder?« fragte der Mann und wies mit einem raschen Blick auf die Schlucht. Die Sonnenstrahlen schienen von seinem Gesicht abzuprallen. Seine Haut hatte die Farbe von schmutziger Seife - weder weiß noch braun. »Gemütlich? Ruhig? Und Wasser
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