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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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großen bärtigen weißen guatón stand, ohne recht zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, wie ihre Beine sich bewegt und ihre Füße den Weg gefunden hatten, hörte sie einen Ausruf hinter sich.
    »He, nehm' Sie mich!« rief eine Stimme, eine Frauenstimme, auf englisch.
    América wandte den Kopf, und da war Mary, die große Hippie-Gringa, die mit dem Drahtring in der Nase wie ein Tier im Stall, und jetzt kam sie im Laufschritt über den Platz, und dabei zupfte sie am Hintern ihrer ausgeleierten, dreckigen Jogginghose.
    Der Dicke, der Gringo, rief ihr etwas entgegen, und im nächsten Augenblick schob sich Mary zwischen América und den voraussichtlichen Arbeitgeber, brabbelte wild mit den Händen fuchtelnd auf englisch auf ihn ein, die großen Stielaugen quollen ihr aus dem Kopf. »Nehm' Sie mich«, sagte sie, ohne América anzusehen, und obwohl América die Wörter nicht verstand, spürte sie ihre niederschmetternde Bedeutung ebenso eindringlich, als hätte ihr die Gringa ein Messer zwischen die Schulterblätter gerammt. »Die da kann doch nicht mal Englisch - was woll'n Sie denn mit der?«
    »Quiero trabajar«, sagte América und flehte damit zuerst den dicken Mann und dann, als Reaktion auf dessen ausdruckslose Miene, Candelario Pérez an, »ich will arbeiten.«
    Candelario Pérez sagte etwas zu dem Mann - América sei vor der Gringa dagewesen, immer der Reihe nach -, und der musterte sie eindringlich und lange - zu lange -, und sie spürte, wie sie sich unter dem starren Blick der blauen Augen wand, doch sie zwang sich, ihn zu erwidern. Dann beschloß der Mann etwas - sie sah es daran, wie er die Schultern und den Unterkiefer vorschob -, und Candelario Pérez sagte zu ihr: »In Ordnung, sechs Stunden Arbeit, dafür zahlt er fünfundzwanzig Dollar«, und dann saß sie im Auto, mitten im Luxus, Ledersitze und dieser süße Geruch einer neuen Maschine, bis die Tür auf der anderen Seite geöffnet wurde und Mary - die große Mary, diese versoffene Gringa-Putzfrau, die versucht hatte, sie wegzudrängen - ebenfalls einstieg.
    Obwohl er sich immer noch beschissen fühlte, wie ein entgleistes Experiment irgendwo im tiefsten Keller des Laboratorio Médico in Mexico City, raffte sich Cándido doch so weit auf, um ihr armseliges Camp ein Stück flußaufwärts zu verlegen, aus der Gefahrenzone. Diese Jungen - diese Teenager-gabachos - hatten ihn in Angst und Schrecken versetzt. Sie waren nicht La Migra, immerhin, und auch nicht die Polizei, aber sein harmloses kleines Bündel mit Gepäck hatten sie mit enormer Energie attackiert, richtig bösartig. Sie waren gefährlich und verrückt, und ihre Eltern, die sie erzogen hatten, mußten noch viel schlimmer sein - was wäre passiert, wenn sie in der Nacht gekommen wären, während er und América eingerollt unter der Decke schliefen?
    Er hatte seine Decke aus dem Bach gefischt und an einem Ast zum Trocknen aufgehängt, auch den Grill und den Kochtopf hatte er gefunden, aber ein Hemd und seine Unterwäsche zum Wechseln waren weg, und von Américas Kleid waren natürlich nur Fetzen übrig. Er wußte, daß sie fort mußten, aber er war noch zu schwach dazu. So verrannen drei Tage, an denen er nur herumlag, Kräfte sammelte, bei jedem Geräusch auffuhr, während es kaum etwas zu essen gab und sie nachts voller Angst schliefen. Und an diesem Morgen war América hungrig aufgewacht, bittere Worte auf den Lippen, Gehässigkeiten und Vorwürfe, er hatte sie geschlagen, und sie hatte sich von ihm abgewandt und war zur Arbeitsvermittlung hinaufgeklettert, als wäre sie gar nicht seine Frau, sondern nur eine flüchtige Bekannte.
    Na gut, dachte er, na gut. Er verkniff sich den Schmerz in der Hüfte, im linken Arm, in der geschundenen Hälfte seines Gesichts, packte ihre Sachen zusammen und stapfte flußaufwärts, gegen die Strömung, wo die Wände des Cañons so steil wurden wie in einem Zimmer. Er hatte einen knappen Kilometer zurückgelegt, als auf einmal Schluß war - das Wasser war hier aufgestaut und erstreckte sich trüb und von unklarer Tiefe von einer Wand des Cañons zur anderen. Auf der anderen Seite lag ein gestrandetes Auto auf dem Dach, vom Hochwasser des letzten Winters mit allem möglichen Schutt überspült.
    Den zerrissenen Rucksack, die schimmelnde Decke, und was er sonst noch tragen konnte, mit der gesunden Hand auf dem Kopf balancierend, watete Cándido durch das Wasser - wenn er es zum anderen Ufer hinüber schaffte und dort ihr Lager aufschlug, dann konnte ihnen

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