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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und er singt für mich allein in dieser samtigen, saumlosen Nacht. Und ich? Ich lege mich zurück und lausche, wie ich in einer anderen Nacht Mozart oder Mendelssohn lauschen würde, eingelullt von der leidenschaftlichen Schönheit ihrer Musik. Der Wasserfall rauscht. Die Coyoten singen. Ich habe eine Handvoll Rosinen und eine Decke: Was wollte ich noch mehr? Die ganze Welt weiß, daß ich zufrieden bin.

6
    Die Bohnen waren aufgebraucht, die Tortillas, der Speck, die letzten paar Reiskörner. Also was würden sie essen - Gras? Wie die Kühe? Diese Frage stellte sie Cándido, als er sie den fünften Morgen daran zu hindern versuchte, den Berg zur Arbeitsvermittlung hinaufzuklettern, und was war schon dabei, wenn es etwas schnippisch klang? Mit welchem Recht konnte er ihr vorschreiben, wohin sie gehen und was sie tun durfte? Viel Hilfe war er nicht. Er konnte ja kaum allein aufstehen und pinkeln - und als diese halbstarken gabachos gekommen waren und ihr Kleid zerrissen und die Decke in den Bach geworfen hatten, wo war er da gewesen? All das schleuderte sie ihm entgegen, wütend, verängstigt und gekränkt zugleich; und darauf erhob er sich von der Decke und schlug sie. Hart. Ohrfeigte sie im felsigen bleichen Morgengrauen der Schlucht, so daß ihr Kopf auf dem Hals herumtanzte wie ein Gummiball. »Red nicht so mit mir«, knurrte er sie zwischen zusammengepreßten Zähnen an. »Das ist eine Beleidigung. Ein Tritt in den Hintern, wo ich ohnehin schon am Boden liege.« Er spuckte vor ihr aus. »Du bist nicht besser als deine Schwester, nicht besser als eine Hure.«
    Aber Gras konnte man nicht essen, und trotz seiner Großmäuligkeit mußte er das einsehen. Es ging ihm besser, aber er war noch lange nicht imstande, den Cañon hinaufzusteigen und sich von neuem in la lucha zu werfen, in den Kampf um die Jobs, um unter vielen anderen als einziger ausgesucht zu werden und dann für zehn zu arbeiten, damit der patrón merkte, daß er am nächsten Tag wiederkommen wollte, und am übernächsten und am Tag darauf. Sie verstand seine Frustration und seine Angst, und sie liebte ihn, ja wirklich, aus tiefstem Herzen. Aber die Zielscheibe seiner bösen, schmutzigen Worte zu sein schmerzte mehr als die Ohrfeigen selbst. Und als alles vorbei war, als die Vögel wieder sangen, der Bach über die Steine plätscherte und die Autos sich oben in die Straße krallten, was war da gewonnen? Bitterkeit, nichts weiter. Sie kehrte ihm den Rücken und machte sich an den strapaziösen Aufstieg, zum fünften Mal, und zum fünften Mal umsonst.
    Jemand reichte ihr einen Becher Kaffee. Ein Mann, den sie schon die letzten beiden Tage gesehen hatte, ein Neuer - er sagte nur, er sei aus dem Süden, sonst nichts. Er war groß - über eins achtzig, schätzte sie - und hatte eine Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt, wie viele der Gringos im Supermarkt. Seine Haut war hell, so hell, daß er fast als einer von ihnen hätte durchgehen können, doch seine Augen gaben ihn preis, diese harten, blanken, unerschrockenen Augen von der Farbe von Kalbsleber. Etwas in ihm war zerbrochen, das sah sie gleich, so wie ein Mann zerbricht, der vor einem Yankee-Boss, dem er nichts abschlagen darf, dienern und kriechen und ihm den Hintern küssen muß, und seine Augen verrieten das: sie stachen wie Waffen auf die Welt ein. O ja, er war Mexikaner.
    Sie mußte den Blick von diesen Augen abwenden, und ihr wurde klar, daß sie den Kaffee - dampfend heiß, mit Milch und so viel Zucker darin, daß er wie Konfekt schmeckte, in einem Styroporbecher mit Plastikdeckel zum Warmhalten - auf keinen Fall hätte annehmen dürfen, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte nichts im Magen, überhaupt nichts, und sie war halb ohnmächtig vor lauter Hunger. Inzwischen war sie im vierten Monat, die Übelkeit hatte aufgehört, aber dafür war sie nun heißhungrig, wahnsinnig vor Hunger, und aß für zwei, dabei gab es nicht mal für einen genug. Sie träumte von Essen, von den leckeren romeritos, die ihre Mutter am Gründonnerstag immer machte, von heißen Tortillas mit gehackten Tomaten, Chilis mit geriebenem Käse, in Öl gebackenen Hühnerköpfen, Garnelen und Austern in mole, einer sämigen Soße mit so scharfen serranos, daß ihr nur beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlief. So nippte sie im warmen, seidigen, blumenduftenden Morgengrauen an diesem Kaffee, und wurde noch hungriger davon.
    Gegen sieben waren bereits drei Pick-ups auf den Platz gefahren, und Candelario Pérez

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