Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
der Welt erweitern. Nun gab es bisher in der Geographie nur ein einziges klassisches Buch, die › Cosmographia ‹ des Ptolemäus, die mit ihren Erklärungen und Karten den Gelehrten Europas seit Hunderten Jahren als unübertrefflich und vollkommen gegolten. Seit 1475 war es durch eine lateinische Übersetzung allen Gebildeten als der allgemeine Kodex der Weltkunde zugänglich und unentbehrlich geworden: was Ptolemäus sagte oder in seinen Karten darlegte, galt durch die Autorität seines Namens schon als bewiesen. Aber gerade in diesen fünfundzwanzig Jahren hatte sich das Wissen um den Kosmos mehr erweitert als vordem in Hunderten von Jahren, und der durch tausend Jahre mehr gewußt als alle Kosmographen und Geographen nach ihm, erwies sich plötzlich in seinen Kenntnissen um die Welt dementiert und überholt von ein paar kühnen Seefahrern und Abenteurern. Wer die › Cosmographia ‹ nun neu herausgeben will, muß sie berichtigen und ergänzen; er muß die neuen Küsten und Inseln, die im Westen gefunden wurden, einzeichnen in die alten Karten. Erfahrung muß die Tradition berichtigen, bescheidene Korrektur der Ehrfurcht vor dem klassischen Werk neue Verläßlichkeit leihen, wenn weiterhin Ptolemäus als der Allweise und sein Buch als unwidersprechlich gelten sollen. Niemand vorGauthier Lud war bisher auf den Gedanken gekommen, das unvollkommene Buch wieder vollkommen zu machen. Es ist eine verantwortliche, aber auch zugleich eine aussichtsreiche Aufgabe, die rechte und gegebene darum für einen zu gemeinsamem Werk versammelten Kreis.
Gauthier Lud, nicht nur ein simpler Drucker, sondern auch als Sekretär des Herzogs und Kaplan ein gebildeter und überdies vermögender Mann, mustert seine kleine Schar und muß bekennen, daß er es glücklicher kaum hätte treffen können. Für die Zeichnung und den Stich von Karten findet sich ein ausgezeichneter junger Mathematiker und Geograph namens Martin Waldseemüller, der entsprechend dem Usus der Zeit in gelehrten Werken seinen Namen zu Hylacomylus gräzisieren wird. Siebenundzwanzig Jahre alt, ein Schüler der Universität Breisgau, verbindet er die Frische und Kühnheit der Jugend mit guten Kenntnissen und einer eminenten zeichnerischen Begabung, die seinen Karten für Jahrzehnte einen Vorrang in der Geschichte der Kartographie sichern wird. Auch ein junger Dichter ist zur Stelle, Matthias Ringmann, der sich Philesius nennen wird, wohl geeignet, mit poetischer Epistel ein Werk einzuleiten und die lateinischen Texte geschmackvoll zu polieren. Auch der rechte Übersetzer fehlt nicht; er ist in Jean Basin gefunden, der als rechter Humanist nicht nur in den alten Sprachen, sondern auch in den modernen geschult ist. Mit einer solchen gelehrten Gilde kann man beruhigt an die Revision des berühmten Werkes gehen. Aber wodie Grundlagen für die Darstellung der neuentdeckten Zonen finden? Hat nicht jener Vesputius als erster auf diese »neue Welt« hingewiesen? Anscheinend war es Matthias Ringmann, der schon vorher den › Mundus Novus ‹ unter dem Titel › De Ora Antarctic ‹ in Straßburg 1505 publiziert hatte. Er erteilte den Rat, die in Deutschland noch unbekannte italienische › Lettera ‹ in lateinischer Sprache dem Ptolemäus als natürliche Ergänzung beizufügen.
Das wäre an sich ein redliches und durchaus dankenswertes Beginnen; aber die Eitelkeit der Herausgeber spielt Vespucci einen schlimmen Streich, und so schürzt sich der zweite der Knoten, aus denen die Nachwelt dem Ahnungslosen einen Strick drehen wird. Statt glatt die Wahrheit zu sagen, daß sie die › Lettera ‹, die Berichte Vespuccis über seine vier Reisen, in der Form, in der sie in Florenz erschienen sind, einfach aus dem Italienischen ins Lateinische übersetzen, erfinden die Humanisten in St-Dié, teils um ihrer Publikation mehr Ansehen zu geben, teils um ihren Mäzen, den Herzog René, besonders vor der Welt zu ehren, eine romantische Geschichte. Sie täuschen dem Publikum vor, Americus Vesputius, der Entdecker dieser neuen Welten, dieser hochberühmte Geograph, sei ein besonderer Freund und Verehrer ihres Herzogs, er habe diese › Lettera ‹ direkt an ihn nach Lothringen gerichtet, und diese Ausgabe stelle die erste Veröffentlichung dar. Welche Huldigung dies für ihren Fürsten! Der größte Gelehrte der Zeit, der hochberühmte Mann, sendetaußer an den König von Spanien nur noch an diesen Duodezfürsten die Schilderung seiner Reisen! Um diese fromme Fiktion aufrechtzuerhalten, wird
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