Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
den › Mundus Novus ‹ zu einer denkwürdigen Urkunde der Menschheit; sie sind – zweihundertsiebzig Jahre vor der anderen – die erste Unabhängigkeitserklärung Amerikas. Columbus, bis zu seiner Todesstunde blind in den Wahn verstrickt, er habe auf Guanahani und Cuba Indien betreten, hat mit diesem Wahn eigentlich seinen Zeitgenossen den Kosmos verkleinert; erst Vespucci gibt, indem er die Hypothese zerstört, dieser neue Kontinent sei Indien, und klar behauptet, es sei eine neue Welt, zugleich das neue und bis zum heutigen Tage gültige Maß. Er sticht den Star, der dem großen Entdecker den Blick auf seine eigene Tat verschattete, und wenn er selbst auch nicht im entferntesten ahnt, welche Dimensionen dieser Kontinent haben wird, so hat er doch wenigstens die Selbständigkeit seines Südteils erkannt. In diesem Sinn vollendet Vespucci tatsächlich die Entdeckung Amerikas, denn jede Entdeckung, jede Erfindung wird gültig nicht nur durch den, der siemacht, sondern mehr noch durch den, der sie in ihrem Sinne, in ihrer wirkenden Kraft erkennt; wenn Columbus das Verdienst der Tat, so gehört Vespucci durch diese seine Worte das historische Verdienst ihrer Deutung. Er hat als Traumdeuter sichtbar gemacht, was sein Vorläufer traumwandlerisch gefunden.
Die Überraschung, welche die Ankündigung dieses bisher unbekannten Vesputius hervorruft, ist eine ungeheure und freudige; sie greift tief in das allgemeine Empfinden der Zeit, tiefer sogar und nachhaltiger als die Entdeckung des Genuesers. Daß ein neuer Weg nach Indien gefunden sei, daß man die von Marco Polo längst beschriebenen Länder auch mit Schiffen von Spanien aus erreichen könne, hatte als kommerzielle Angelegenheit immerhin nur einen kleinen, an dieser Entdeckung unmittelbar interessierten Kreis beschäftigt: die Kaufleute, die Händler in Antwerpen und Augsburg und Venedig, die bereits eifrig kalkulierten, auf welchem Weg – dem Vasco da Gamas über den Osten oder dem des Columbus über den Westen – man die Gewürze, den Pfeffer und den Zimt billiger verschiffen könne. Die Mitteilung dieses Alberico aber, daß ein neuer Teil der Welt mitten im Ozean aufgefunden sei, wirkt auf die Phantasie der großen Masse mit unwiderstehlicher Kraft. Ist es die sagenhafte Insel Atlantis der Alten, die er gefunden? Sind es die glückseligen, die halkyonischen Inseln? Wunderbar wird das Selbstgefühl der Zeit gesteigert durch das Gefühl, daß die Erde weiter und überraschungsreicher sei,als selbst die weisesten Männer der Vorzeit vermutet, und daß es ihnen, daß es ihrer eigenen Generation vorbehalten sei, die letzten Geheimnisse des Erdballs zu ergründen. Und man versteht, mit welcher Ungeduld die Gelehrten, die Geographen, die Kosmographen, die Drucker und hinter ihnen die unermeßliche Schar der Leser warten, daß dieser unbekannte Albericus sein Versprechen erfülle und mehr erzähle von seinen Forschungen und Reisen, die zum erstenmal die Welt und die Menschheit über die Größe des Erdballs belehren.
Die Ungeduldigen müssen nicht allzulange warten. Zwei oder drei Jahre später erscheint bei einem Drucker in Florenz, der seinen Namen – wir werden später sehen, aus welchen Gründen – wohlweislich verschweigt, ein dünnes Heftchen von sechzehn Seiten in italienischer Sprache. Es nennt sich: › Lettera di Amerigo Vespucci delle isole nuovamente trovate in quattro suoi viaggi ‹ (Brief Amerigo Vespuccis über die auf seinen vier Reisen entdeckten Inseln). Am Ende trägt dieses Opusculum das Datum: » Data in Lisbona a di 4 septembre 1504. Servitore Amerigo Vespucci in Lisbona. «
Schon durch diesen Titel erfährt endlich die Welt mehr von diesem geheimnisvollen Manne. Erstens, daß er Amerigo heißt, nicht Alberico, und Vespucci statt Vespucius. Aus der Einleitung, die an einen großen Herrn gerichtet ist, werden weitere Lebensumstände klar. Vespucci berichtet, in Florenz geboren zu sein und sich nach Spanienals Kaufmann begeben zu haben ( per tractare mercantie ). In diesem Berufe habe er vier Jahre verbracht, während derer er die Wandelbarkeit des Glücks erfahren habe, »das seine vergänglichen und unbeständigen Güter ungleichmäßig verteilt, eines Tages den Menschen auf den Gipfel trägt, um ihn den nächsten wieder herabzuschleudern und der sozusagen geliehenen Güter wieder zu berauben«. Da er aber gleichzeitig beobachtet habe, welche Fährlichkeiten und Unannehmlichkeiten in dieser Jagd nach dem Gewinne liegen, habe er sich
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