Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
– die These vertreten, daß dies neugefundene Land nicht Asien zugehöre, sondern » quartam pars mundi «, einen neuen Weltteil darstelle. Daß er mit dieser gutgemeinten Zuweisung Vespucci statt bloß dieses vermutliche Inselland Terra Sancta Crucis einen ganzen Erdteil von Labrador bis hinab nach Patagonien zuteilen wird und damit Columbus, den wahren Entdecker dieses Kontinents, um sein Eigentum bestiehlt, davon hat der gute Waldseemüller keine Ahnung. Aber wie sollte er auch dies ahnen, da doch Columbus es selbst nicht ahnt, sondern hitzig und aufgeregt beschwört, Cuba sei China und Haiti Japan? Ein neuer Faden Irrtum hat sich mit dieser Benennung America in den schon ziemlich verwirrten Knäuel verwickelt; jeder der auch in gutwilligster Absicht an das Problem Vespucci rührt, hat bisher immer nur noch einen neuen Knoten hineingeflochten und es damit noch unlösbarer gemacht.
Es ist also eigentlich nur einem Mißverständnis zu danken, daß Amerika Amerika heißt, und überdies noch einem doppelten Zufall. Denn hätte es dem » insigni poetae « Jean Basin beliebt, den Namen Amerigo so, wie es die anderen taten, ins Lateinische mit Albericus statt mit Americus zu übersetzen, so lägen New York und Washington heute in Alberica und nicht in Amerika. Aber nun ist der Name zum erstenmal in Lettern gegossen, die sieben Lettern für alle Zeiten zum Wort vereinigt, und wandert so von Buch zu Buch, vonMund zu Mund, unaufhaltsam, unvergeßbar. Es steht, es besteht, das neue Wort, und nicht allein durch den zufälligen Vorschlag Waldseemüllers, nicht durch Logik oder Unlogik, Recht oder Unrecht, sondern durch die ihm innewohnende phonetische Kraft. Amerika – das Wort schwingt an und schwingt aus mit dem volltönendsten Vokal unserer Sprache, es mengt die andern abwechslungsreich ein. Es ist gut für den begeisterten Ruf, klar für das Gedächtnis, ein kräftiges, volles, männliches Wort, wohlgeeignet für ein junges Land, ein starkes, aufstrebendes Volk; unbewußt hat der kleine Geograph mit seinem historischen Fehlgriff etwas Sinnvolles geschaffen, da er die aus dem Dunkel aufsteigende Welt mit diesem Bruderwort zu Asien, Europa und Afrika benannte.
Es ist ein eroberndes Wort. Es hat Gewalt in sich, es drängt ungestüm all die andern Bezeichnungen fort – ein paar Jahre nur seit dem Erscheinen der › Cosmographiae Introductio ‹, und es hat die Namen » Terra dos Papagaios «, die » Isla de Santa Cruz «, » Brazzil «, die » Indias Occidentales « in den Büchern und auf den Weltkarten ausgelöscht. Ein eroberndes Wort; von Jahr zu Jahr reißt es mehr an sich, tausendmal, hunderttausendmal mehr als der gute Martin Waldseemüller je geträumt. 1507 meint »Amerika« nur die brasilianische Nordküste, und der Süden mit Argentinien heißt noch » Brasilia Inferior «. Wäre es dabei geblieben (im Sinne Waldseemüllers), daß bloß diese eine Küste, die Vespucci zuerst beschrieben, ja daß selbst ganzBrasilien Amerigos Namen erhalten hätte, niemand würde ihn eines Fehlgriffs beschuldigen. Aber ein paar Jahre später, und schon hat der Name Amerika die ganze brasilianische Küste und Argentinien und Chile an sich gerissen, also Gegenden, die der Florentiner nie erreicht oder erschaut. Alles was immer rechts und links, oben und unten, südlich des Äquators entdeckt wird, verwandelt sich in Vespuccis Land. Schließlich heißt – etwa fünfzehn Jahre nach Waldseemüllers Buch – ganz Südamerika schon Amerika. Alle die großen Kartographen haben kapituliert vor dem Willen des kleinen Schulmeisters in St-Dié – Simon Gryneus in seinem ›Orbis Novus‹, Sebastian Münster in seinen Weltkarten. Aber noch immer ist der Triumph nicht vollkommen. Noch immer hält die grandiose Komödie der Irrungen nicht inne. Noch immer ist auf den Karten Nordamerika von Südamerika abgeschieden als eine andere Welt, teils Asien dank der Unbelehrbarkeit der Zeit zugerechnet, teils durch eine imaginäre Meerenge von Amerigos Kontinent getrennt. Aber endlich begreift die Wissenschaft, daß dieser Kontinent eine Einheit ist von Eismeer zu Eismeer, daß ein einziger Name ihn zusammenfassen muß. Und da erhebt es sich mächtig, das stolze, unbesiegbare Wort, dieser Bastard eines Irrtums und einer Wahrheit, um die unsterbliche Beute an sich zu reißen. Bereits 1515 hatte der Nürnberger Geograph Johannes Schöner in einer kleinen Schrift, die seinen Globus begleitete, » Americam sive Amerigem « als » novum Mundum et
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