Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
absichtlich verdunkelt worden sei. Hier nähern wir uns zum erstenmal dem eigentlichen Vespucci-Geheimnis, das seit Hunderten von Jahren die Gelehrten aller Nationen beschäftigt hat – wieviel in den Berichten von seinen Reisen ist Wahrheit und wieviel Erfindung (oder sagen wir es härter: Fälschung)?
Dieser Zweifel betrifft vor allem die erste der vier Reisen, jene vom 10. Mai 1497, die schon Las Casas angezweifelt hat, und die Vespucci allenfalls eine gewisse Priorität als Entdecker des Kontinents hätte sichern können. Sie ist in keinem historischen Schriftstück erwähnt, gewisse Elemente in ihr sind zweifellos der zweiten Reise mit Hojeda entlehnt. Selbst die fanatischsten Verteidiger Vespuccis konnten kein Alibi für eine Seefahrt Vespuccis in jenem Jahre erbringen und müssen sich mit Hypothesen begnügen, um ihr einen Schatten von Wahrscheinlichkeit zu geben. Im einzelnen hier die Beweise und Gegenbeweise aus diesen endlosen und schroff kontradiktorischen Diskussionen der gelehrten Geographen anzugeben, würde allein ein Buch füllen; genug, daß drei Viertel von ihnen diese erste Reise als imaginärablehnen, während der Rest seiner ex-offo-Verteidiger Vespucci bei dieser Gelegenheit bald Florida, bald den Amazonenstrom als erster entdecken läßt. Aber da der unermeßliche Ruhm Vespuccis sich größtenteils auf diese erste – höchst zweifelhafte – Reise gründete, mußte der ganze aus Irrtum, Zufall und unbelehrter Nachrednerei getürmte Babelturm ins Wanken geraten, sobald man mit der philologischen Axt an die Fundamente rührte.
Diesen entscheidenden Schlag führt Herrera 1601 in seiner › Historia de las Indias Occidentales ‹. Der spanische Geschichtsschreiber brauchte nicht lange um Argumente sich zu bemühen, da er Einblick hatte in das damals noch unveröffentlichte Buch des Las Casas, und eigentlich ist es also noch immer Las Casas, der gegen Vespucci eifert. Herrera erklärt und beweist mit den Gründen des Las Casas, daß die Datierung der » Quatuor Navigationes « eine unwahre sei, daß Vespucci 1499 und nicht 1497 mit Hojeda ausgefahren, und kommt zu dem Beschluß – ohne daß der Angeklagte zu Wort kommen kann–, daß Amerigo Vespucci »listig und absichtsvoll seine Berichte gefälscht habe in der Absicht, Columbus die Ehre zu stehlen, der Entdecker Amerikas gewesen zu sein«.
Der Nachhall dieser Enthüllung ist gewaltig. Wie? schrecken die Gelehrten auf, Vespucci war gar nicht der Entdecker Amerikas? Der weise Mann, dessen maßvoll bescheidene Art wir als vorbildlich bewundert, ein Lügner, ein Betrüger,ein Mendez Pinté, einer dieser verruchten Reiseschwindler? Denn wenn er auch nur eine Reise erlogen hat, warum sollten die andern dann wahrhaftig sein? Welche Schmach – der neue Ptolemäus nichts anderes als ein niederträchtiger Herostrat, der sich tückisch in den Tempel des Ruhms eingeschlichen, um mit einem schurkischen Verbrechen sich Unsterblichkeit zu erkaufen! Welche Schande für die ganze gelehrte Welt, daß man, von seinen Großsprechereien verführt, den neuen Erdteil mit seinem Namen taufte! Wäre es nicht an der Zeit, diesen blamablen Irrtum richtigzustellen? Und ganz ernsthaft schlägt Fray Pedro Simon 1627 vor, »den Gebrauch jedes geographischen Werkes und jeder Karte zu unterdrücken, worin sich der Name Amerika befindet«.
Das Pendel hat zurückgeschlagen. Vespucci ist ein erledigter Mann, und glorreich erhebt sich im siebzehnten Jahrhundert wieder der halb vergessene Name des Columbus. Groß wie das neue Land ersteht nun seine Gestalt. Von allen Taten ist nur seine Tat geblieben, denn die Paläste Montezumas sind geplündert und verfallen, die Schatzkammern Perus geleert, all die Taten und Schandtaten der einzelnen Conquistadoren vergessen; nur Amerika ist Realität, ein Schmuck der Erde, eine Heimstatt für alle Verfolgten, ein Land, das Land der Zukunft. Welches Unrecht ist getan worden an diesem Manne, welches Unrecht in seiner Zeit und in den Jahrhunderten nach ihm! Columbus wird zur Heldengestalt, alle Unterschätzung,alle Schatten in seinem Bilde werden getilgt, man schweigt über seine schlechte Verwaltung, seine religiösen Phantastereien, und idealisiert sein Leben. Alle Schwierigkeiten werden dramatisch gesteigert: wie die Matrosen schon meutern und er sie mit Gewalt nach vorwärts reißt, wie er in Ketten von einem niedrigen Schurken heimgebracht wird, wie er mit seinem halbverhungerten Kinde in dem Kloster zu Rabida Obdach findet –
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