Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
die Tat, unbedenklich als der Entdecker dieser neuen Welt gefeiert. Als erster zieht Schoner, der Geograph, die Scheidelinie: Columbus habe bloß einige Inseln entdeckt, Vespucci aber die neue Welt. Und ein Jahrzehnt später ist es durch Nachsprechen und Nachschreiben schon Axiom geworden: Vespucci sei der Entdecker des neuen Erdteils, und nur zu Recht heiße Amerika Amerika.
Durch das ganze sechzehnte Jahrhundert strahlt hell und ungetrübt dieser irrtümliche Ruhm Vespuccis als der Entdecker der neuen Welt. Nur ein einzigesmal hebt sich ziemlich schüchtern ein leiser Einspruch. Ei kommt von einem sonderbaren Mann, von Miguel Servet, der später den tragischen Ruhm erlangt hat, als erstes Opfer einer protestantischen Inquisition von Calvin in Genf auf den Scheiterhaufen gestoßen worden zu sein. Servet ist ein merkwürdiger Charakter der Geistesgeschichte, ein Viertel Genie, ein Viertel Narr, ein unzufriedener, alles verwegen bemängelnder Irrlichtgeist, der auf jedem Gebiet der Wissenschaft meint, seine persönliche Meinung in heftigster Form vertreten zu müssen. Aber diesemeigentlich unproduktiven Mann eignet ein merkwürdiger Instinkt, überall an entscheidende Probleme zu rühren. In der Medizin spricht er Harveys Theorie vom Blutkreislauf beinahe schon deutlich aus, in der Theologie trifft er Calvins schwächsten Punkt, immer kommt ihm ein geheimnisvolles Ahnungsvermögen zu Hilfe, Geheimnisse, wenn auch nicht zu lösen, so doch aufzuspüren: auch in der Geographie rührt er an das entscheidende Problem. Von der Kirche geächtet, nach Lyon geflüchtet, wirkt er dort als Arzt unter falschem Namen und gibt gleichzeitig 1535 eine neue Ausgabe des Ptolemäus heraus, die er mit eigenen Anmerkungen versieht. Dieser Ausgabe sind die Karten der Ptolemäusausgabe von Laurent Frisius 1522 beigegeben, die gemäß dem Vorschlag Waldseemüllers den Südteil des neuen Kontinents mit »Amerika« benennen. Aber während der Herausgeber des Ptolemäus von 1522, Thomas Ancuparius, in seiner Vorrede, ohne Columbus überhaupt zu erwähnen, einen Hymnus auf Vespucci anstimmt, wagt Servet als erster gewisse Einschränkungen gegen die allgemeine Überschätzung Vespuccis und die vorgeschlagene Benennung des neuen Erdteils zu machen. Schließlich sei, schreibt er, Vespucci doch nur als Kaufmann ausgefahren – » ut merces suas comutaret « – und » multo post Columbum «, lange nach Columbus. Es ist noch eine ganz vorsichtige Äußerung, gleichsam nur ein Räuspern des Protests; auch Servet denkt nicht daran, Vespucci seines Ruhms als Entdecker zu berauben; er möchte nur nicht,daß Columbus ganz übersehen werde. Es ist also noch keineswegs die Antithese Columbus oder Vespucci gestellt, noch kein Prioritätsstreit eröffnet; was Servet andeutet, ist nur, daß man sagen sollte: Vespucci und Columbus. Aber ohne richtige Beweise in Händen zu halten, ohne genauere Kenntnis der historischen Situation, einzig aus seinem argwöhnischen Instinkt, Irrtümer zu wittern und Probleme an einer ganz neuen Seite anzufassen, deutet Servet als erster an, daß es bei diesem mit der Wucht einer Lawine über die Welt gestürzten Ruhm Vespuccis nicht ganz mit rechten Dingen zugehe.
Entscheidender Einspruch kann freilich nur von jemandem kommen, der nicht wie Servet in Lyon auf Bücher und ungewisse Nachrichten angewiesen ist, sondern dem verläßliche Kenntnis der faktischen historischen Geschehnisse zugänglich ist. Und es wird eine gewichtige Stimme sein, die sich gegen den Über-Ruhm Vespuccis erhebt, eine Stimme, der sich Kaiser und Könige beugen mußten und deren Wort Millionen gepeinigter, gefolterter Menschen erlöste: die Stimme des großen Bischofs Las Casas, der die Greuel der Conquistadoren gegen die Eingeborenen mit einer so erschütternden Kraft aufgedeckt hat, daß man noch heute seine Berichte nur mit zuckendem Herzen zu lesen vermag. Las Casas, der ein Alter von neunzig Jahren erreichte, ist Augenzeuge der ganzen Entdeckungszeit gewesen, und dank seiner Wahrheitsliebe, seiner priesterlichen Überparteilichkeit,ein unbedenklicher Zeuge: seine große Geschichte Amerikas › Historia general de las Indias ‹, die er 1559 im fünfundachtzigsten Lebensjahre im Kloster von Valladolid begonnen, darf noch heute als die solideste Grundlage der Geschichtsschreibung jener Epoche gelten. 1474 geboren, war er 1502, also noch in der columbianischen Zeit, nach Hispaniola (Haiti) gekommen und hatte als Priester und später als Bischof,
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