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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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und einer hatte im Augenblick des Anschlags gerade eine Rede beendet. Obwohl sich die Anklage allein auf die politischen Ideen und Schriften der Beschuldigten stützte, wurden sieben von ihnen zum Tode verurteilt, einer zu fünfzehn Jahren Haft. Vier wurden schließlich gehängt, ein fünfter brachte sich in seiner Zelle mit einer ins Gefängnis geschmuggelten Dynamitstange um, die er sich in den Mund steckte.
    In der Arbeiterbewegung reagierte man mit großer Empörung auf den Prozess und die Urteile, auch in Europa. In Russland, Italien, Spanien, den Niederlanden und Großbritannien fanden Protestkundgebungen statt. Eine von sechzigtausend Menschen unterschriebene Petition bewirkte schließlich, dass der Fall neu untersucht wurde; 1893 begnadigte Gouverneur John Peter Altgeld die drei noch inhaftierten Verurteilten, wobei er in seiner Begründung betonte, dass alle acht unschuldig seien. Bis heute finden jedes Jahr Gedenkveranstaltungen für die Haymarket Martyrs statt, wie man die Verurteilten schon kurz nach dem Prozess nannte. Der wirkliche Täter wurde nie gefunden.
    Clarence Darrow gehörte zu den vielen Chicagoern, für die der Haymarket-Fall einen persönlichen Wendepunkt bedeutete. Er unterstützte die Solidaritätsbewegung und wurde im Lauf der Zeit zu einem der prominentesten Kämpfer für die Bürgerrechte und die Achtung der Menschenwürde. »In sein Gesicht haben sich die Spuren des Kampfes eingegraben«, schrieb der berühmte Journalist H. L. Mencken über Darrow. »Er hat mehr Kriege durchgestanden als ein ganzes Regiment Pershings. Und in den meisten ging es um Leben und Tod, ohne Regeln oder Gnade.«
    Darrows Plädoyers in den zahlreichen Prozessen, in denen er Underdogs jedweder Art verteidigte, waren legendär. Sie dauerten bis zu zwei, drei Tage und waren so emotional, dass ihm am Ende selbst die Tränen kamen, ein Großteil des Publikums weinte und sogar der Richter sich die Augen trocknen musste. Die Amerikaner brauchten jemanden wie Darrow, um trotz allem glauben zu können, dass es in ihrem Land noch so etwas wie Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz gab.
    Darrows Biographie liest sich wie die Geschichte eines Einzelkämpfers, der unbeirrbar gegen den Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Filz von wirtschaftlicher und politischer Macht vorging. 1902 zum Beispiel vertrat er mit Erfolg die Bergarbeitergewerkschaft, die in Pennsylvania die Konfrontation mit den Steinkohle- und Eisenbahnunternehmern gewagt hatte.
    Die Bergleute schufteten für wenig mehr als einen Dollar pro Tag unter teilweise höchst gefährlichen Bedingungen. Ihre Familien waren meist kinderreich, und das Überangebot an billigen Arbeitskräften im Kindesalter wurde von den Unternehmern rücksichtslos ausgenutzt. Die Mädchen mussten früh die Schule verlassen und in den Textilfabriken arbeiten, die in der Nähe der Minen errichtet worden waren; Jungen mussten schon mit zwölf Jahren die schlechte Kohle von den Bändern »klauben«, also aussortieren – eine scheußliche Arbeit. Und allein in Pennsylvania kamen zu jener Zeit durchschnittlich etwa zehn Bergleute pro Woche ums Leben.
    Für die Zeitung Chicago’s American schrieb Darrow eine Serie mit dem Titel Easy Lessons in Law . Darin berichtete er über Schicksale wie die von John Swanson, einem Arbeiter, der wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen eine Hand in einer Sägemaschine verlor; von Pat Connor, einem Eisenbahner irischer Herkunft, der zur Strafe für sein gewerkschaftliches Engagement eine gefährliche Arbeit auf einem Nachtzug verrichten musste und dabei von einer niedrigen Brücke enthauptet wurde; von James Clark, einem Metallarbeiter, der beim Bau eines Wolkenkratzers in die Tiefe stürzte und als »weiches, formloses Bündel aus blutigem Fleisch, Knochen und Lumpen endete«. Clarks Witwe bekam keinen Cent.
    Selbst der römische Kaiser Trajan, meinte Darrow, habe angeordnet, dass für die Akrobaten im Zirkus ein Fangnetz aufgespannt wurde, »aber das war vor dem Aufstieg von Christentum und Handelsgeist«.
    Das Leben spielte sich damals innerhalb kleiner Gemeinschaften ab; die sozialen Bindungen waren eng, vielleicht gerade wegen der Härte des Daseins. Das galt für alle amerikanischen Städte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der bekannte Rundfunkreporter Studs Terkel brachte 1967 unter dem Titel Bericht aus einer amerikanischen Stadt eine Sammlung von Gesprächen mit Einwohnern Chicagos heraus, Jungen, Alten, Reichen, Armen, eine bunte

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