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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Mischung. Das Ergebnis war zwar in erster Linie ein Porträt Chicagos, im Grunde aber eine Momentaufnahme der Vereinigten Staaten insgesamt. In sämtlichen Lebensgeschichten der Menschen, die zwischen 1910 und 1930 aufgewachsen waren, fällt etwas ganz Wesentliches auf: das Zusammengehörigkeitsgefühl, das damals noch das Leben in Stadt und Nachbarschaft bestimmte.
    »Vorher, da war Chicago eine Großstadt und hatte doch viel von einer Kleinstadt«, meinte ein dreiundfünfzigjähriger Arbeiter. »Die Stadtviertel existierten wie selbständige Kleinstädte nebeneinander […] Dann sind die Menschen näher zusammengerückt, Verwandte kamen auf Besuch, man hatte mehr Freunde, man hat sich mehr unterhalten, man hat sich kennen gelernt […] Damals wurde mehr musiziert, ich meine zu Hause.« Samstags abends oder sonntags habe man immer jemanden besucht oder Besuch bekommen, habe Karten gespielt oder ein Picknick veranstaltet. »Ich glaube, die Leute hatten mehr Zeit«, sagte eine sechsundsechzigjährige Frau. »Sie gingen viel öfter aus, oder saßen auf ihren Vorderverandas und schwatzten mit den Nachbarn.«
    Das Leben sei vielleicht in mancher Hinsicht härter gewesen, aber auch einfacher.
    Die afroamerikanische Bevölkerung von Chicago wohnte ursprünglich in einem langen, schmalen, black belt genannten Stadtteil; der Schwarze, dem es in den Sinn kam, sich außerhalb dieses übervölkerten Gettos niederzulassen, bekam die größten Schwierigkeiten. Allein in den Jahren 1917 bis 1921 verübten militante weiße Rassisten Bombenanschläge auf fast sechzig von zugezogenen Afroamerikanern bewohnte Häuser. Nachdem im Sommer 1919 ein schwarzer Schwimmer in der Nähe eines »weißen« Strandes mit Steinen beworfen worden und ertrunken war, kam es zu heftigen Unruhen. Weiße zerrten Schwarze aus Straßenbahnen, Schwarze schossen aus dem Hinterhalt auf weiße Laufburschen.
    Dennoch galt Chicago als liberal, wie der gesamte Staat Illinois, in dem Abraham Lincoln als Anwalt und Politiker Karriere gemacht hatte; Afroamerikaner besaßen hier schon seit 1870 das Wahlrecht, Rassentrennung an Schulen war verboten. Neben Detroit war auch Chicago ein Hauptziel der First Great Migration , der ersten Massenauswanderung von Afroamerikanern aus dem agrarischen Süden. In den Jahren 1916 bis 1920 fuhren fünfzigtausend von ihnen, vor allem aus Alabama, Mississippi, Arkansas, Louisiana und Texas, nach Chicago, meist mit einem Zug der Illinois Central Railroad, die man damals wegen der Proviantpakete der Auswanderer auch Fried Chicken Special nannte. Eisenbahner brachten den Chicago Defender , seit 1905 die Wochenzeitung der afroamerikanischen Gemeinschaft Chicagos, zur Weiterverteilung in die Südstaaten-Bahnhöfe; mit Sätzen wie » I hear you calling me, and have boarded the train singing ›Goodbye, Dixie Land‹« wurde in der Zeitung für die Auswanderung geworben.
    Der Defender gab der selbstbewussten afroamerikanischen Bevölkerung der Stadt ein Gesicht. Liest man Artikel aus der Zeit der Great Migration , spürt man schon jenen freien Geist, der später die Voraussetzung für den Aufstieg so vieler prominenter Schwarzer sein sollte; man denke an Jesse Jackson, der in South Carolina aufgewachsen ist, an Oprah Winfrey, die in Mississippi zur Welt kam und mit fünfzehn schwanger wurde, oder an Harold Washington, der 1983 zum ersten afroamerikanischen Bürgermeister Chicagos gewählt wurde. Kaum jemand hatte das für möglich gehalten. »Wir alle stehen in Harold Washingtons Schuld«, erklärte Lou Ransom, Redakteur beim Defender . Washington habe einen Schalter umgelegt: »Wenn Harold Bürgermeister werden kann, was ist für uns dann noch unmöglich?«
    Nicht zuletzt diesem Erfolg verdankt sich die Audacity of Hope eines Barack Obama und seiner Unterstützer: Warum sollte nicht irgendwann ein Afroamerikaner oder eine Afroamerikanerin die Vereinigten Staaten regieren? Als Obama 1993 seine Laufbahn in der Anwaltskanzlei von Allison Davis junior und Judd Miner begann, hängte er in seinem Arbeitszimmer ein Foto Harold Washingtons auf. Und Obama musste sich gleich mit einer der zahllosen Intrigen der Chicagoer Politik beschäftigen: dem Fall »Barnett gegen Daley«. Afroamerikaner klagten gegen eine Neuaufteilung der Wahlbezirke im Jahr 1991, die den Weißen überall eine knappe Stimmenmehrheit garantierte, und dies, obwohl es in Chicago schon seit 1990 eine schwarze Bevölkerungsmehrheit gab. Nach einigen Jahren bekamen die Kläger recht,

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