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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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großer Brand etwa ein Drittel der Stadt zerstörte – hunderttausend Einwohner wurden obdachlos –, machte Chicago aus der Not eine Tugend: Beim Wiederaufbau wurden neue, den strengeren Brandschutzbestimmungen genügende Bautechniken angewandt, die Gebäude erhielten Stahlskelette, steinerne Zwischendecken und Terrakottaverkleidungen.
    Diese neuen Techniken und die Entwicklung immer zuverlässigerer elektrischer Aufzugsanlagen ermöglichten den Bau höherer Häuser; so entstanden in Chicago in den achtziger Jahren die ersten Wolkenkratzer, überwiegend Bürogebäude. Sie sollten das Erscheinungsbild der Chicagoer Innenstadt und bald das der typischen amerikanischen Großstadt prägen. Das zehnstöckige Home Insurance Building, 1885 fertiggestellt, war das erste richtige Hochhaus. Zwei Jahre später wurde mit dem Bau des ebenfalls zehnstöckigen Chicago Auditorium Building begonnen. Das 1890 vollendete Gebäude hatte einen Turm mit sechzehn Stockwerken und eine für jene Zeit ungewöhnlich große Nutzfläche: Es bot Platz für 136 Büros und Geschäfte, ein Hotel mit 400 Zimmern und einen Konzertsaal mit 4000 Sitzplätzen, den größten der Welt. Auch kulturell begann Chicago nun eine bedeutende Rolle zu spielen.
    Schon früh lockte die Stadt zahlreiche Handwerker an, vor allem Tischler. Architekten und Ingenieure bekamen hier die Gelegenheit, ihre kühnsten Entwürfe zu verwirklichen – bis heute entstehen in Chicago zahlreiche Bauten von hohem architektonischem Niveau. Der Fleischproduzent Gustavus Swift, der ein großes Kühlhaus besaß, ließ in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten gut funktionierenden Kühlwaggons konstruieren und gründete 1885 den ersten landesweit agierenden Fleischkonservenkonzern. Da aus dem Mittleren Westen gewaltige Viehherden per Eisenbahn zu den Chicagoer Schlachthöfen transportiert werden konnten, war die Stadt bald international führend in der fleischverarbeitenden Industrie. Allein in den Jahren 1899 bis 1905 wurde die Nahrungsmittelproduktion in den Vereinigten Staaten um 40 Prozent gesteigert, und Chicago war eindeutig der wichtigste Verteiler dieses Überflusses.
    Darüber hinaus war die Stadt ein Magnet für Einwanderer: Im Jahr 1900 bestand die Bevölkerung Chicagos zu mehr als drei Vierteln aus Immigranten oder deren Nachkommen, überwiegend aus Polen, Schweden, Deutschland und Italien. Die meisten Einwanderer wohnten in heruntergekommenen Mietskasernen; nicht selten hausten fünf oder sechs Familien in einer einzigen Wohnung. Schon 1874 marschierten zwanzigtausend Arbeitslose durch die Stadt und forderten »Brot für die Bedürftigen, Kleidung für die Nackten, Häuser für die Obdachlosen«.
    Chicago war ein Knotenpunkt, der den Osten mit dem Westen des Landes verband, eine Stadt der Massenbehausungen, Industriegelände, Fleischwarenfabriken und Verkehrsanlagen, das Rome of the Railroads .
    John Gunther war ein typisches Produkt dieser Stadt. Er gilt als einer der Begründer des modernen Journalismus. Sein Reisebericht Inside U.S.A. gehört zu den genauesten Beschreibungen des Landes in den Jahren um die Mitte des 20. Jahrhunderts – Gunther ist so um Vollständigkeit bemüht, dass er am Schluss des Buches sogar aufzählt, worüber er nicht geschrieben hat.
    Er begann seine Laufbahn als Reporter der Chicago Daily News . Die Redaktion war in einem Gebäude neben dem Rathaus untergebracht; durch die immer schmutzigen Fenster sah man das stählerne Viadukt der Hochbahn und ihre lärmenden Züge, darunter ein Gewimmel von Straßenhändlern und schuftenden Arbeitern, viele von ihnen Einwanderer. In der Redaktion schien sich diese ganze Betriebsamkeit zu konzentrieren: Sie war erfüllt von einer Kakophonie aus Telefongeklingel, Telex- und Schreibmaschinengeklapper und Rufen nach Laufburschen, wenn wieder einmal ein Artikel blitzschnell in den Satz musste. Gunthers Herz schlug für die Literatur, bekannte er später, aber er berichtete über alles, was in diesem Hexenkessel einen Bericht wert war: Brände, Raubüberfälle, Morde, Politik.
    1924 ging er als Korrespondent nach London. Zwölf Jahre lang berichtete er aus ganz Europa, aus Rom, Berlin und Madrid ebenso wie aus Paris, London und Moskau. Churchill und Roosevelt kannte er persönlich. Hitler hatte ihn auf seine Todesliste gesetzt.
    Kaum aus Europa zurückgekehrt, stürzte er sich wieder ins Getümmel der heimischen Metropole. Ein Artikel für Harper’s begann mit dem Satz: »Ich habe mit

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