Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Unterbrechungen zwanzig Jahre in Chicago gewohnt, aber nie einen Mord gesehen.«
Das klang nicht sehr glaubhaft. Chicago war bis in die dreißiger Jahre eine der berüchtigtsten Städte Amerikas, das Revier von Verbrechern wie Al Capone und Frank » The Enforcer « Nitti. Doch kaum jemals wurde ein Unbeteiligter getötet. Mord in Chicago kostete nämlich Geld, mindestens 50 Dollar. Je wichtiger das Opfer, desto höher natürlich der Preis. John Gunther: »Mich, einen Zeitungsmann, ermorden zu lassen, kostet wahrscheinlich tausend Dollar. Für das Umbringen eines führenden Geschäftsmanns wird man etwa fünftausend Dollar bezahlen müssen, für den Mord an einem prominenten Lokalpolitiker zehntausend. Um den Direktor eines großen Konzerns oder eine Person im Zentrum der Macht töten zu lassen, muss man erheblich mehr aufwenden, wahrscheinlich um die fünfzigtausend Dollar.«
In diesem Artikel nannte er kaum Namen bekannter Krimineller, sondern beschrieb vor allem das kriminelle System, das jahrzehntelang die Stadt beherrschte. Angenommen, man handelte mit Autoreifen und Akkus. Man bekam Besuch von einem – wie üblich von Schlägern begleiteten – Gangster, der 100 Dollar pro Monat verlangte. Natürlich bezahlte man, sonst wurde man zusammengeschlagen oder das Geschäft in Brand gesteckt. Und was tat die Polizei? Etwas von dem »Beitrag« ging direkt an die Cops, sie waren Teil des Systems. Und die Politik? Dass die Machenschaften der Gangs von allen Seiten toleriert wurden, war nur eine weitere Erscheinungsform jener hoch ansteckenden politischen Korruption, die es schon viel länger gab.
Während der Prohibition, also in den Jahren von 1920 bis 1933, als in den Vereinigten Staaten offiziell kein Tropfen Alkohol verkauft oder ausgeschenkt werden durfte, wurde Chicago schnell zum Zentrum des illegalen Handels. Mit Alkohol konnte man sich eine goldene Nase verdienen. Der Jahresumsatz von Kriminellen wie Al Capone lag zu jener Zeit bei etwa 100 Millionen Dollar, meint Gunther. Von diesen 100 Millionen wurden mindestens 30 Millionen gleich wieder als Schmiergeld ausgegeben.
Das Gangsterimperium von Chicago ging schließlich unter, weil ihm die Einnahmen wegbrachen. Die Prohibition wurde aufgehoben, in einer Zeit des wirtschaftlichen Abschwungs brachte auch Erpressung immer weniger ein, das FBI erhöhte den Druck auf die Syndikate, und außerdem gingen nun die großen Unternehmen Chicagos aktiv gegen das organisierte Verbrechen vor, weil das alles beherrschende Bündnis von Kriminalität und Korruption ein normales Wirtschaften unmöglich machte. Allerdings blieb manches in der Politik Chicagos noch lange Zeit höchst merkwürdig und verdächtig.
Wie die meisten Amerikaner in Vergangenheit und Gegenwart glaubte John Gunther nicht so recht an die Integrität von Politikern. »Politik ist in den Vereinigten Saaten ein Geschäft, in dem die meisten Politiker Geld zu verdienen hoffen«, schrieb er. Fast nirgendwo trieben sie es aber so bunt wie in Chicago.
Als Kennedy und Nixon sich im Jahr 1960 ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das Präsidentenamt zu liefern schienen, sprach Richard Daley, der legendäre Bürgermeister von Chicago, in einem Telefonat mit Kennedy die beruhigenden Worte: »Mit ein bisschen Glück und der Hilfe von ein paar guten Freunden gewinnst du Illinois.« Dass es tatsächlich Manipulationen gegeben hatte, kam bald ans Licht. Auf 10 Prozent der Wählerlisten fanden sich Unstimmigkeiten: Als Adressen von Wählern waren leere Baugrundstücke angegeben worden, andere angebliche Wähler waren schon vor Jahren fortgezogen, wieder andere verstorben. In einem Wahlbezirk, in dem nur 22 Wähler registriert waren, wurden 77 abgegebene Stimmen gezählt, die weitaus meisten für Kennedy.
Der Jurist George Robert Blakey, der im Auftrag des Justizministeriums die organisierte Kriminalität untersuchte, erklärte später, dass »in Chicago genügend Stimmen gestohlen – ich wiederhole: gestohlen – worden sind, um Kennedy den Spielraum zu verschaffen, den er brauchte, um den gesamten Staat Illinois zu gewinnen«. Tatsächlich hatte Kennedy die Wahl mit einem hauchdünnen Vorsprung gewonnen.
Noch heute stinkt die Politik von Chicago mindestens so penetrant wie die Schlachthöfe. Im Jahr 2006 ging der Republikaner George Ryan, ehemaliger Gouverneur von Illinois, wegen Korruption und Bestechung für sechs Jahre ins Gefängnis. Sein Nachfolger, der demokratische Gouverneur Milorad (»Rod«) Blagojevich, wurde 2009
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