Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Sauk Centre in dem Roman heißt, ein Begriff. »Die Main Street«, schrieb Sinclair Lewis, »das ist der Höhepunkt der Zivilisation. Damit genau das Ford-Automobil heute vor dem ›Bon-Ton‹-Warenhaus stehen kann, ist Hannibal in Rom einmarschiert und hat Erasmus in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Oxford zur Feder gegriffen. Was Kaufmann Ole Jenson dem Bankier Ezra Stowbody erzählt, wird zum neuen Gesetz für London, Prag und die unrentablen Meeresinseln; was immer Ezra nicht kennt und nicht gutheißt, das ist Ketzerei, die zu wissen nicht lohnt und die zu erwägen frevelhaft wäre. Unser Bahnhof erfüllt höchstes Architektenstreben. Sam Clark erzielt mit seinen Eisen- und Haushaltswaren einen Jahresumsatz, um den die vier Counties, die ›Gottes Land‹ ausmachen, ihn beneiden. Die einfühlsame Kunst der ›Rosbud‹-Lichtspiele vermittelt uns Denkanstöße und jugendfreien Humor.«
Sinclair Lewis bekam 1930 als erster Amerikaner den Nobelpreis für Literatur, doch in Sauk Centre konnte er sich zunächst nicht blicken lassen. Das war vermutlich der Grund, warum Steinbeck ihm einige Gedanken widmet: »Ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt, und ich war ihm nie in jenen stürmischen Zeiten begegnet, als man ihn den ›Roten‹ nannte. […] Ich hatte Main Street als Schüler gelesen und erinnere mich noch an den wütenden Haß, den der Roman in seiner Geburtsstadt und ihrer ganzen Umgebung hervorgerufen hatte. War er zurückgegangen?« Steinbeck hatte in seiner Heimat dasselbe erlebt, als Die Früchte des Zorns 1939 aus Schulen und Bibliotheken entfernt wurden und als wütende Großgrundbesitzer das Buch – »obszön in der schlimmsten Bedeutung des Wortes« – öffentlich auf den Scheiterhaufen warfen. Seitdem hatte er sich dort nicht mehr wirklich heimisch gefühlt.
Steinbeck und Lewis hatten in New York ein paar Mal zusammen zu Mittag gegessen. Laut Steinbeck trank Lewis nicht mehr, und er aß ohne jeden Appetit, »aber manchmal funkelten seine Augen noch stählern«. Sinclair Lewis war um einiges älter als er, doch beide waren Außenseiter im Literaturbetrieb, weil sie sich nie von der Provinz hatten lösen können, die sie so sehr verfluchten. Lewis starb 1951. Da war er bereits der Held des kleinen Städtchens, und man dachte sogar darüber nach, den Namen Sauk Centre aufzugeben und den Ort in Gopher Prairie umzubenennen.
»Der einzig gute Autor ist ein toter Autor. Der kann niemanden mehr überraschen und niemanden mehr verletzen«, schreibt Steinbeck über seinen alten Kollegen. »Und jetzt ist er gut für die Stadt. Bringt ihr ein paar Touristen ein. Jetzt ist er ein guter Autor.«
Sauk Centre hat heute eine Sinclair Lewis Avenue, einen Sinclair Lewis Park, einen Sinclair Lewis Camping Ground und sogar ein Sinclair Lewis Denkmal, auf dem alles noch einmal erläutert wird. Lewis selbst liegt unter einem kleinen grauen Grabstein auf dem Greenwood Cemetery. Ja, er ist zurückgegangen.
Die Heldin von Main Street heißt Carol Kennicott, eine zupackende junge Dame, die nach ihrer Collegezeit in St. Paul Hals über Kopf den Landarzt in Sauk Centre geheiratet hat. Ihr Mann gehörte zur oberen Mittelschicht der kleinen Stadt, jener Kreise um den Bankdirektor und die wichtigsten Geschäftsleute, und genau hier versucht sie mehr Leben, Schönheit und Kultur einzuführen.
Sinclair Lewis beschreibt, wie Carol am ersten Morgen nach ihrer Ankunft in der Main Street einkaufen geht, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie kommt an Dyer’s Drugstore mit seiner schmuddeligen marmornen soda fountain vorbei, an den ›Rosebud‹-Lichtspielen – Film der Woche: Fatty in Love –, am blutigen Schaufenster von Dahl and Oleson’s Meat Market, am ›Bon Ton‹-Store für Herrenmode und an Billy’s Lunchroom mit seinem Zwiebelgeruch. Die Straßen sind gesäumt mit Masten für Lampen, Strom- und Telefonleitungen, und dazwischen stehen Tankstellen, Autos und Kisten mit Waren. Direkt dahinter beginnt die weite Prärie.
»Nach einem Rundgang von zweiunddreißig Minuten hatte Carol die ganze Stadt in Augenschein genommen – von Ost nach West und von Nord nach Süd; und als sie jetzt an der Kreuzung Main Street Washington Avenue stand, war sie der Verzweiflung nahe.«
Carol würde in der heutigen Main Street nichts wiedererkennen – außer dem Corner Drugstore und dem alten Bankgebäude. Als John Gunther die Stadt in den vierziger Jahren besuchte, hatte sich schon fast alles verändert. Die Fassaden waren mindestens
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