Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
anderthalb mal so hoch, alle Geschäfte waren vergrößert und modernisiert worden, jeder hatte Autos und Geld. Die vierziger Jahre waren für die amerikanischen Farmer gute Jahre. Der Lebensstandard, schrieb Gunther, hätte Dr. Kennicott verblüfft. »Erinnern Sie sich noch daran, wie er von einem Farmer elf Dollar für eine Operation verlangt und zu ihm sagt, er könne sich mit der Begleichung der Rechnung bis zum nächsten Jahr Zeit lassen – bis nach der Ernte? Heute sind die Hypotheken und die barnyard loans zum größten Teil abbezahlt.«
Etwas von der Welt, die Carol Kennicott, Ole Jenson und Ezra Stowbody kannten, findet man im Jahr 2010 nur noch in dem kleinen Stadtmuseum wieder, ein mit Sorgfalt und Liebe zusammengetragener Antiquitätenladen, vollgestopft mit Uniformen, verschiedenen Tafelgeschirren, Nähmaschinen, Toastern, Abendkleidern und verrostetem Werkzeug. Ein Foto ist mehr als ein flüchtiges Interesse wert, eine Aufnahme der Main Street Ecke Sinclair Lewis Avenue um 1960: ein lebendiges Einkaufsviertel mit soliden Bürogebäuden und ebensolchen Ladengeschäften und dazu der Corner Drugstore. Doch auch die klassischste Main Street Amerikas musste dran glauben: Das Herrenmodengeschäft gibt es noch immer, das Kino und das Palmer House Hotel Café harren tapfer aus, aber die Bäckerei ist mit Brettern vernagelt, in dem alten Gebäude der First National Bank befindet sich jetzt ein Geschenkartikelladen, und der Corner Drugstore steht zum Verkauf.
Carol Kennicott hatte etwas von Madame Bovary, der Heldin von Gustave Flaubert, jener Arztgattin, die mit all ihren Träumen und Hoffnungen in einem französischen Dorf begraben wurde. Allerdings ist Carol aktiver, sie versorgt die Bibliothek mit neuer Literatur, ist in diversen Clubs tätig, diskutiert über soziale Probleme und schließt Freundschaften außerhalb der üblichen Kreise – die ihr jedoch durch allerlei Manipulationen der Reihe nach wieder genommen werden. Es war das klassische amerikanische Streben, dem Carol sich widmete: Städtische Zivilisation in die Wildnis bringen und sie dort etablieren.
Der Westen war wild, das Leben in der Prärie eine harte und einsame Form des Überlebens. Schlägereien waren – selbst im Kongress – die normalste Sache der Welt. Doch seit den Anfängen gab es auch eine kulturelle Gegenbewegung. Ungeachtet der schwierigen Lebensumstände kauften im 18. Jahrhundert die Bewohner des kolonialen Deerfield – damals noch ein abgelegener Außenposten – teure Genussmittel wie Kaffee und Tee; sie besaßen Gemälde und Tafelgeschirre, und sie benutzten modische Toilettenartikel. Aus einem 1774 aufgestellten Inventar geht hervor, dass es sogar in vier von zehn armen Haushalten ein Teeservice gab. Ein Zeitgenosse schrieb: »Für das Vergnügen, im Salon Tee zu trinken, waren etliche Familien bereit, auch weiterhin in der Scheune zu pissen.«
Auch Tocqueville beobachtete die Neigung der Menschen, sich an Kultur und Luxus, vor allem aus Europa, aufzurichten: »Wenn man auf einem grauenhaften Weg eine Art Wildnis durchquert und einen bewohnten Ort erreicht hat, findet man zu seinem Erstaunen eine höher entwickelte Zivilisation vor als in irgendeinem unserer Dörfer«, schrieb er im Sommer 1831 seiner Mutter. »Der Bauer achtet auf sein Äußerliches, sein Haus ist blitzblank, und als Allererstes will er mit einem über Politik reden.« Ein Pionier, den er traf, stellte ihm gleich Fragen über die relative Stärke der verschiedenen französischen Parteien.
Amerika verfügte bereits ab 1800 über ein hervorragendes, vom Kongress vorangetriebenes Postwesen, so dass selbst in den hintersten Winkeln des Landes Zeitungen und Zeitschriften gelesen wurden. Mit den Flussdampfern kamen Klaviere und Französischlehrer. Joseph Laframboise, der erste Pelzjäger, der sich um 1830 in Minnesota niederließ, schickte seine Töchter, sobald das möglich war, auf ein Internat an der Ostküste. In Detroit, 1831 noch ein Dorf in der Wildnis, stieß Beaumont auf die neueste französische Mode.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Zivilisationsprozess rasch an Umfang und Bedeutung zu, und Carols Aktivitäten müssen in diesem Licht betrachtet werden. Die Immigranten brachten ihre eigenen Traditionen und Umgangsformen mit, sie gründeten Kirchen und Schulen und verlangten, dass sich in dieser Wildnis alle an die Regeln hielten. Die Pioniere lernten, sich, wie ordentliche Stadtbewohner, häufiger zu waschen, weniger zu
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