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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Manager eines solchen Ladens gehe nach einem halben oder einem Jahr wieder und nehme daher nie wirklich am Gemeinschaftsleben teil: »Die Ladenketten unterminieren den civic spirit .«
    Er sprach damit einen wichtigen Punkt an. Ebendieser Bürgersinn war und ist schließlich auch die Basis der amerikanischen Politik. So waren beispielsweise Steinbecks Freunde in Sag Harbor in vielen politischen Fragen unterschiedlicher Meinung – vor allem der »rote« John scherte oft aus –, aber sie sahen einander jeden Tag, sie sorgten gemeinsam für neue Straßenlaternen und eine bessere Kanalisation, und sie respektierten einander.
    Die amerikanische Nation ist aus solchen engagierten, überall im Land sich bildenden örtlichen Zusammenschlüssen entstanden, sie sind die Grundlage des politischen Lebens. Tocqueville beschrieb immer wieder die »politische Betriebsamkeit«, die er überall antraf: »Von überallher erhebt sich verworrener Lärm; ungezählte Stimmen dringen gleichzeitig an das Ohr.« Die Main Street, mit ihren Clubs und Logen, aber auch mit der Lokalzeitung und all ihren beiläufigen Begegnungen, formte die lebendige soziale Gemeinschaft, die darauf aufbaute. Meine amerikanischen Freunde sind voll des Lobes über die warmen Schul- und Kirchengemeinden, die überall in den Suburbs entstanden sind, und natürlich über das Internet. »Das Internet ist die neue virtuelle Main Street der Zukunft«, meinen sie. Doch ich habe Zweifel. Die Dynamik der Main Street wurde befeuert durch ihren allgemeinen Charakter, durch die Tatsache, dass alle mit allen zu tun hatten, ganz gleich welcher politischen oder religiösen Strömung sie angehörten. Das Charakteristikum des Internets hingegen ist die Möglichkeit, zu trennen und zu separieren, jede Kommunikation und Information auf bestimmte Gruppen und Denkrichtungen zu beschränken.
    Die Main Street verband. Das Internet befördert zugleich die Tendenz zur Individualisierung und Polarisation.
    Auch wenn es in Amerika Tausende von Main Streets gibt, die sich zum Teil stark voneinander unterscheiden, ist der Niedergang der Main Street an sich ein allgemeines Phänomen mit großen politischen Folgen. Sogar der Bankier Ezra Stowbody müsste zugeben, dass die Main Street den »Höhepunkt der Zivilisation« hinter sich hat. Das Problem reicht weiter als eine zugenagelte Bäckerei und ein geschlossenes Bankgebäude. Die Main Street hat auch ihre emotionale Kraft verloren – und damit ihre politische Bedeutung.
    » All politics is local «, lautet noch immer eine Redensart in Washington. Kongressmitglieder werden von der lokalen Bevölkerung delegiert, und das bestimmt ihr Tun und Lassen in hohem Maße. Nur hat die lokale Bevölkerung ihre Basis verloren. Die »politische Betriebsamkeit«, die Tocqueville überall wahrnahm, die »ungezählten Stimmen« von der Main Street USA , der civic spirit von Steinbeck und seinem Freundeskreis in Sag Harbor – das alles ist verstummt oder hat sich in Luft aufgelöst. Und keiner kann sagen, was an seine Stelle getreten ist.
    Wir machen uns auf den Weg nach Fargo in North Dakota, der Stadt, die genau auf dem Knick in der Mitte der amerikanischen Landkarte liegt. Ich probiere es aus. Es stimmt, es ist die Mitte. Wegen des Knicks ist Fargo auf vielen Karten sogar weggescheuert. Vielleicht durfte es deshalb eigentlich gar nicht existieren, vielleicht hatten sich aus diesem Grund die Elemente immer wieder gegen die Stadt verschworen. Für Steinbeck war Fargo schon seit Kindertagen ein magischer Ort. Am kältesten Tag des Jahres war Fargo garantiert der kälteste Ort auf dem Kontinent. Wenn es warm war, schneite oder regnete – immer übertraf Fargo alle Spitzenwerte. Jedenfalls in Steinbecks Erinnerung.
    Steinbeck verbrachte die Nacht in Frazee, etwa sechzig Meilen vor Fargo, vermutlich auf einem Ladeplatz für Lastwagen, eine Erfahrung, die er mit der zuvor bereits beschriebenen Übernachtung im Truthahnland kombinierte. Er war erschöpft. Nach Sauk Centre hatte er dieselbe Route genommen wie wir, über die US 71 und die US 10, er war durch dieselbe Landschaft aus Weiden und Wäldern gefahren und wahrscheinlich hatte auch er die gewaltigen Kohlen- und Güterzüge gesehen, die wehmütig heulend durch die Ebene ziehen – ich zählte einen mit fünf Lokomotiven und neunundneunzig Waggons.
    In der Reise mit Charley entwirft Steinbeck ein Bild von sich, das der Spiegelung in der Windschutzscheibe gleicht: ein mageres, verschrumpeltes Gesicht, das

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