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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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aussieht wie ein Apfel, der zu lange in der Tonne gelegen hat; ein einsames Gesicht, krank vor Einsamkeit. Der Ton, den er in den Briefen an Elaine anschlägt, ist jedoch entspannt und munter. Er sei dabei, Würstchen zu braten, schreibt er in Frazee, und er habe einen fruchtbaren Tag hinter sich. Man habe viel über lokale Politik gesprochen, doch Washington sei weit weg. Ein Mann habe sein Nummernschild gesehen und gesagt: »Den ganzen langen Weg von New York!« Während der Fahrt habe er ununterbrochen lokale Radiostationen gehört. »Meistens dieselbe Musik wie bei uns. ›Pure Apple Pricess‹, ›My Baby Has Brown Eyes‹.«
    Am nächsten Tag quälte Steinbeck sich durch Fargo, eine Stadt, »genauso verkehrsverstopft, genauso neonbepflastert, genauso quirlig und voller Aktivitäten wie jede andere aufstrebende Sechsundvierzigtausend-Seelen-Stadt«. Ruhe fand er erst in Alice, etwa fünfundzwanzig Meilen hinter Fargo, an einem schmalen Seitenweg, am Ufer des Maple River.
    Wir fahren dieselbe Strecke, durchqueren Fargo mit derselben Oberflächlichkeit, vorbei an Hunderten von identischen Wohnkomplexen, geistlos und komfortabel, von der Sorte, die überall auf der Welt weiterwuchert. Und dann, hinter Fargo, eröffnet sich uns plötzlich die wirkliche Leere Amerikas, die Endlosigkeit der Great Plains , die Wüste aus bräunlichem Gras im Herzen dieses Landes. Der Boden ist leicht abschüssig, irgendwie hat alles eine gewisse Ordnung, aber nur noch selten sehen wir eine Farm oder einen Weiler. Der Weg ist ein einziger langer Betonstreifen, der ins Nichts und Nirgends führt.
    Laut seinem Bericht hat Steinbeck hier irgendwo am Maple River campiert. Er spülte dort seine sehr erfindungsreich gewaschene – in einem leeren Abfalleimer mit Deckel, der während der Fahrt durchgeschüttelt wurde – Wäsche aus, hing die Sachen zum Trocknen über die Sträucher, fand im Müll einen weggeworfenen richterlichen Vollstreckungsbefehl – ausstehende Alimente – und dachte über Einsamkeit und Politik nach. In der Nähe hielt ein Auto mit einem Wohnwagen. Am Steuer saß, wie sich herausstellte, ein Theaterschauspieler –» Good afternoon , ich sehe, Sie sind von der Profession« –, der die Säle in der Provinz mit einem Shakespeare-Monolog abklapperte, den er Wort für Wort von einer Schallplatte mit Sir John Gielgud übernommen hatte. Die beiden setzten sich zusammen und tranken; Steinbeck blieb den restlichen Nachmittag und den Abend an dem kleinen Fluss hängen.
    Irgendwann kreuzen wir tatsächlich den Maple River, und da ist auch die Abzweigung nach Alice (damals 164 Seelen, heute 40), das etwa zehn Meilen abseits der Hauptstraße liegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Steinbeck hier Pause gemacht hat. Der Maple River ist ein freundliches Bächlein, und es ist der einzige hübsche Ort in dieser größtenteils kahlen Endlosigkeit.
    »Die Nacht war voller Omen. Der bleierne Himmel verwandelte das kleine Gewässer in gefährliches Metall, und dann kam der Wind auf – nicht der böige, scharfe Wind an den Küsten, den ich kannte, sondern ein großes brausendes Dahinfegen, dem im Umkreis von tausend Meilen nichts entgegenstand.«
    Am selben Abend schlief er jedoch – wie aus seinen Briefen hervorgeht – in einem Motel, gut dreihundert Meilen entfernt, in der Nähe des Dorfes Beach. Er telefonierte mit Elaine, nahm ein Bad, unterhielt sich an der Bar mit ein paar Männern über die Hirschjagd; mehr gab es nicht zu berichten. In jeder guten Lügengeschichte steckt immer auch ein Körnchen Wahrheit: Er wusch an dem Abend tatsächlich ein paar Hemden, in der Badewanne.
    Ein Stück weiter, in Tower City, steht ein neuer diner am Straßenrand, der einzige in weitem Umkreis. Fünf Männer in karierten Hemden hocken hinter gewaltigen Omeletts mit hashbrowns – rösti nennt man die hier in diesem Laden –, der Spezialität des Hauses. Sie essen mit der Gabel, mit großer Intensität, die linke Hand, riesig und schwielig, ruht auf dem Schoß.
    Viel passiert hier nicht, sogar die Bußgelder, die der örtliche Richter diese Woche verhängt hat, stehen ausführlich in der Zeitung: Evan Luther für zu schnelles Fahren 10 Dollar; Gary Scott für das Übersehen einer roten Ampel 25 Dollar; Harry Blozonski für das Fahren unter Drogeneinfluss 250 Dollar. Dies ist das Amerika der Einsamkeit. Dreißig der fünfzig amerikanischen Bundesstaaten haben weniger Einwohner als Dänemark. Die Bevölkerungsdichte von europäischen Ländern wie

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