Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
England und Deutschland liegt bei etwa 250 Einwohnern pro Quadratkilometer. In Amerika sind es durchschnittlich 33. Außerdem leben vier Fünftel der Amerikaner in einer Stadt oder in einer Suburb. Was außerhalb dieser Gebiete liegt, ist das hier.
Leeres Land.
Die Bismarck Tribune berichtet über ein Treffen der lokalen Tea-Party-Bewegung – mit Slogans wie: »Russland hat angerufen. Es will seinen Sozialismus wiederhaben.« Im Theodore Roosevelt Nationalpark machen sich elk reduction teams an die Arbeit. Der Park wird teilweise gesperrt, weil von den neunhundertfünfzig Wapitis etwa ein Drittel abgeschossen werden soll. Das Fleisch wird an die Indianer und an Wohltätigkeitsorganisationen verteilt. In den Meldungen aus dem Ausland wird vor allem über französische Studenten berichtet, die randalieren, weil ihre Pensionen in vierzig Jahren nicht mehr so hoch sein werden wie die ihrer Großeltern heute. In den amerikanischen Kommentaren ist, von links bis rechts, eine gewisse Bestürzung über diese europäische »Dekadenz« zu spüren.
In einer übergroßen Anzeige wird für das Medikament Bactium geworben, eine Pille, die angeblich den Darm von Würmern und schädlichen Bakterien reinigt und so die meisten Krankheiten verhindert und jedwede Medizin überflüssig macht. »Diese kleine Tablette sorgt dafür, dass Ihr Arzt seine Praxis spätestens 2012 schließen muss.«
Meine Frau kommt mit einem älteren Ehepaar ins Gespräch; die beiden setzen sich zu uns, sie wollen gern ein wenig plaudern und berichten, wie froh sie darüber sind, dass dieser diner wieder geöffnet hat. »Alle aus der Gegend kommen hierher, endlich sehen wir uns ab und zu wieder mal.« Sie selbst wohnen etwa fünfzig Meilen von der Hauptstraße entfernt und kommen regelmäßig her, nur um eine Tasse Kaffee zu trinken. »Sonst würden wir nie mit jemand anderem reden.« Ihr Leben lang haben sie eine Farm bewirtschaftet. Beide stammen aus dieser Ebene; sie wurden fünfzig Meilen westlich geboren und wohnen jetzt fünfzig Meilen östlich von hier. »Nein, weit sind wir nicht gekommen, aber wir hatten ein schönes Leben.«
Wir reden darüber, wie verlassen das Land ist und ob man sich daran jemals gewöhnt. Der Mann erzählt, etwas traurig, die alte Geschichte: dass es früher eine ganze Reihe von Farmen gab und dass jeder jeden kannte. »Wissen Sie, wenn man früher unterwegs war und in einen Schneesturm geriet, dann musste man keine Angst haben. Man konnte überall hingehen, bei allen fand man Obdach. Heute steht manchmal zehn, fünfzehn Meilen weit kein einziges Haus mehr am Weg. Es ist ein unfreundliches Land geworden.«
Wir fahren weiter, die nächsten hundert Meilen, raus aus dem Sendegebiet des einen Lokalradios und hinein in das des nächsten; überall derselbe Einheitsbrei aus Softrock und Countrymusik, der auch Steinbeck schon weitertrieb. Dann und wann spiegelt sich die Sonne auf dem Asphalt, wie in einer großen Wasserpfütze. Manchmal fahren wir durch seltsame Staubschleier, die dünn und regungslos in der Luft hängen wie eine Nebelbank. Ich verstehe jetzt, warum er seine Rosinante wie ein Schiff eingerichtet hat. Nach einer Weile bewegt man sich nicht mehr durch diesen Raum, es ist ein Meer, auf dem man fährt. Das Schaukeln unseres Jeeps auf den Wogen lässt uns mehr und mehr verstummen.
Wir kommen an Bismarck vorbei. Als Ernie Pyle hier im Juli 1936 während der großen Dürre entlangfuhr, sah er ein vollkommen brachliegendes Land mit lauter bankrotten Farmern und zahlungsunfähigen Gewerbetreibenden; ehemals grüne Hügel, auf denen einst riesige Herden in Freiheit grasten, waren »durch Zutun des Menschen verdorrt, vollgestopft und ruiniert«. Im Jahr 2010 fahre ich über glatte Schnellstraßen, vorbei an ein paar netten Vorortsiedlungen, und dann liegt die Stadt auch schon hinter uns. Später am Nachmittag bilden sich hoch oben Zirruswolken mit hellblauen und rosafarbenen Schwaden. Ein Schwarm Gänse bahnt sich einen Weg durch die Leere.
Ich muss an das denken, was der britische Autor Jonathan Raban über die gepeinigte Landschaft des Mittleren Westens geschrieben hat, über die Schneestürme und die Heuschreckenplagen, und über die Religiosität der Menschen, die dort wohnen. Je öfter er in die Gegend kam, umso besser verstand er, warum der protestantische Gott Amerikas so viel dreister und temperamentvoller war als der ruhige englische Gott seiner Kindheit. »Ein Land der Erdbeben, Überflutungen, Orkane,
Weitere Kostenlose Bücher