Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
dass »ihr« Dollar bis vor nicht allzu langer Zeit die Rolle einer Art Weltwährung spielte; sie haben das Gefühl, dass die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ihr Land nicht betreffen.
Wehe dem Politiker, der – wie Barack Obama – solche Überzeugungen auch nur für einen Moment in Frage zu stellen scheint. Die übrigen Bewohner des Planeten beobachten all dies verwundert und nicht selten auch beunruhigt.
»Wir sehen uns nicht als potentielle Weltherrscher, wohl aber als Vormünder der Menschheit auf ihrer Pilgerfahrt zur Vollkommenheit«, schrieb Reinhold Niebuhr 1952, nicht ohne eindringlich vor diesem Irrglauben zu warnen. Schon damals sprach er von dem »Traum, sich die Geschichte gefügig zu machen«, der irgendwann zu einer tödlichen Gefahr für die Vereinigten Staaten werden könne.
Er war und ist nicht der Einzige. Der Soziologe Philip Slater meinte zwanzig Jahre später in seiner viel gelesenen Studie zur amerikanischen Kultur, »einer der ältesten und hartnäckigsten Mythen in der amerikanischen Psyche« sei »die Phantasie der Einzigartigkeit«. Sogar ursprünglich neokonservative Denker wie Robert Kagan und Francis Fukuyama sind inzwischen der Ansicht, die amerikanische Wirtschaft und Politik seien zu sehr auf unverdiente Privilegien gegründet; die meisten Nichtamerikaner, stellte Fukuyama fest, teilen einfach nicht den Glauben an eine amerikanische Ausnahmestellung.
Doch die klugen Analysen haben wenig genützt. Ganz gleich, wie die Realität aussieht, die meisten Amerikaner glauben vorbehaltlos an die amerikanische Sonderrolle, vielleicht sogar mehr denn je.
5
Die Shaker-Siedlung bei Canterbury, New Hampshire, ist heute eine leere Hülse. Die letzten Shaker, die diese Gebäude bewohnten, sind Ende des 20. Jahrhunderts gestorben. Was bleibt, ist ein Museum. Es umfasst einige schlichte Holzhäuser mit einfachen Möbeln und Gebrauchsgegenständen, die ich kaum für museumswürdig erklärt hätte: Scheren, Nähnadeln, Tintenlappen, Milchkannen, eine hölzerne Schubkarre. Die Wände sind klösterlich weiß. Neben der Scheune findet eine Vorführung von free cider pressing statt, in einem Laden in der Nähe wird heute Shaker-Apfelkuchen feilgeboten. Im Obergeschoss rezitiert die Stimme von Schwester Mildred Barker (1897 – 1990) auf Tonband alte Kinderlieder:
»Come little children, come to Zion
Come little children, march along
And your clothing and your dress
Shall be a robe of righteousness«
Im Laden finden die Shaker-Gebrauchsgegenstände, berühmt für ihre fast skandinavisch-schlichte Formgebung, reißenden Absatz. Eine Holzschachtel mit Angelhaken und einem aufgemalten Fisch auf dem Deckel: 95 Dollar. Eine hölzerne Obstschale: 275 Dollar. Ein ebenfalls hölzerner Brunneneimer: 395 Dollar. Mit Lebensidealen hat das nichts mehr zu tun. Kaufen kann man sie aber noch, die Läuterungsgefühle, für 95, 275 oder 395 Dollar.
John Steinbeck war kein Puritaner, doch auf seiner Reise hatte auch er das Ideal einer gewissen Einfachheit vor Augen. Das hing mit seinem Weltbild zusammen. Allem Vorgefertigten, allzu Perfekten misstraute er, in dieser Hinsicht war er ein altmodischer Amerikaner, und so gesehen war seine Rosinante ein puritanisches Auto, ohne Chrom und die damals so beliebten Heckflossen, keiner Mode unterworfen, nur auf Zuverlässigkeit und lange Haltbarkeit angelegt.
Die Wahl des schlichten GMC -Kleinlasters war zumindest in jener Zeit auch eine Art Protest gegen die sich ausbreitende Konsummentalität. Dass Steinbeck eine Menge Werkzeug mitnahm, kann man ebenso interpretieren. Er gehörte nicht der Wegwerfgeneration an, sondern noch der Repariergeneration, die es gewohnt war, bei größeren wie kleineren Schwierigkeiten das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, die wusste, wie man auch ohne oder mit wenig Geld überleben kann, und die letztlich nur auf die eigene Kraft und Geschicklichkeit vertraute. In dieser Hinsicht lebte er die amerikanische Tradition der Eigenständigkeit, die von den Puritanern bis zur heutigen Tea Party reicht und sich in zwei Sätzen zusammenfassen lässt: »Ich schaffe das allein. Lasst mich in Ruhe!«
In Maine fuhr er zunächst einmal in östlicher Richtung zur Deer Isle. Darauf hatte seine Freundin und Agentin Elisabeth Otis bestanden; sie hatte auch gleich mit einer gewissen Miss Eleanor Brace telefoniert, bei deren Haus er Rosinante abstellen durfte. »Die Frostluft«, schreibt er, »prickelte angenehm auf der Haut.« Überall im Hügelland
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