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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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waren Schüsse zu hören, die Jagdsaison hatte begonnen.
    Während wir seinen Spuren folgen, wird mir klar, wie schnell er mit seiner rüttelnden Rosinante gefahren sein muss. Am ersten Tag ließ er es wie geplant noch ruhig angehen, doch schon bald drückte er aufs Tempo und fuhr auch auf den schmalen alten Straßen 250 bis 300 Meilen pro Tag, also 400 bis 480 Kilometer. Er klagte über die niedrigen zulässigen Höchstgeschwindigkeiten in manchen Staaten, 50 Meilen pro Stunde waren ihm entschieden zu wenig. Außerhalb der großen Städte gab es kaum Verkehr. Und es begann zu regnen.
    »Die Straßen sind sehr lang«, schrieb er an Elaine. »Es ist ein verdammt großes Land. Und ich merke, dass mir der Hintern müde wird, wenn ich mehr als zweihundert Meilen fahre.« Er hatte ein aufblasbares Bootskissen gegen den Sitzschmerz mitgenommen. Für Unterhaltung sorgte das knackende AM-Radio mit zwei runden Drehknöpfen, mitten auf dem Armaturenbrett. Der Tophit jenes Herbstes war Brian Hylands Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini und muss Steinbeck bald auf die Nerven gegangen sein.
    Auch ein halbes Jahrhundert später sind die Straßen lang und leer, die Geschwindigkeiten niedrig. Aus den Lautsprechern kommen klagende Lieder zu Gitarrenbegleitung, meist von Frauen gesungen, und träge Rockmusik, stundenlang, eine Endlosklangtapete. Die Landschaft ist hier weniger schön, das Gleiche gilt für die menschlichen Ansiedlungen. Neben eleganten hölzernen Villen und Farmhäusern sieht man häufig klapprige Wohnwagen und verfallende Scheunen. Nirgendwo mehr saftige Weiden, dafür leere, steinige Äcker, so weit das Auge reicht. Die Wälder bestehen zum größten Teil aus Kiefern. Und es ist kälter, viel kälter hier – aber das liegt nicht nur an der geographischen Breite, sondern auch einfach am Wetter.
    Es wird Sonntag. In Die Reise mit Charley besucht Steinbeck einmal eine Kirche: Irgendwo in Vermont zog er einen Anzug an, polierte seine Schuhe und betrat »würdevoll […] eine Kirche aus blendend weißen Schiffsplanken«. Kein Steinbeck-Experte hat herausgefunden, um welche es sich handelte, überall in Vermont stehen weiße Holzkirchen. »Der Prediger, ein Mann aus Eisen mit stählernem Blick und einer Sprechweise wie ein Presslufthammer«, hinterließ einen bleibenden Eindruck. Er predigte nämlich »als Experte über die Hölle, und zwar nicht über die windelweiche Hölle unserer verzärtelten Tage, sondern über eine gut ausstaffierte, weißglühende Hölle, die von erstklassigen Fachleuten bedient wird«. Die Predigt bescherte Steinbeck ein wunderbares Gefühl von Sündigkeit, das sich noch einige Tage hielt. »Jahrelang hatte ich nicht sehr viel von mir gehalten, aber wenn meine Sünden ein solches Format hatten, konnte ich stolz auf sie sein.«
    Auch der Kirchenbesuch war Teil von Steinbecks Plan, sein Land neu zu entdecken, und in dieser Hinsicht eine gute Idee. Die Vereinigten Staaten sind bekanntlich eine außergewöhnlich religiöse Nation, und nicht wenige der Vermonter Gemeindemitglieder werden sogar die Höllengeschichte ihres Pfarrers für bare Münze genommen haben. Der Glaube an die Hölle ist in den letzten Jahrzehnten etwas schwächer geworden, aber der Himmel hat bis heute Hochkonjunktur; im Herbst 2010 stand das Buch Heaven is for Real: A Little Boy’s Astounding Story of His Trip to Heaven and Back wochenlang auf einer Amazon-Bestsellerliste. Nach neuesten Umfragen glauben fast zwei Drittel der Amerikaner an den Teufel und die Hölle, fast drei Viertel an den Himmel und vier Fünftel an einen persönlichen Gott, der aktiv in ihr Leben eingreift. Ein seltsamer Widerspruch: Die Amerikanische Revolution und die Verfassung sind ganz und gar Produkte der Aufklärung, dennoch würde sich so gut wie kein Politiker zum Atheismus zu bekennen wagen. Die Existenz Gottes in Frage zu stellen wäre politischer Selbstmord; als Politiker darf man eher noch Muslim oder homosexuell sein als ungläubig.
    Die auffallende Religiosität der Amerikaner, vor allem im Vergleich zu den Europäern, hat zweifellos viel mit den Grundlagen des amerikanischen Nationalismus zu tun, mit dem Gefühl, einer exklusiven, von Gott auserwählten und gesegneten Gemeinschaft anzugehören. In zahllosen Bräuchen und Ritualen wird diese Vorstellung bekräftigt – man denke an Vereidigungen, die Zeremonien an Nationalfeiertagen oder den Pledge of Allegiance , das Treuegelöbnis, das Schulkinder täglich ablegen müssen, die

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