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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Höllenprediger, den Steinbeck erlebt hatte.
    Bis zur Deer Isle brauchen wir noch einen halben Tag. Sie ist Teil einer Hunderte Meilen langen Küstenlandschaft aus unzähligen Buchten und vorwiegend waldigen Inseln und Halbinseln; einige wie kleine Wäldchen, die sich aus dem grauen Meer erheben, andere schwarzgrün, mit Sandstränden und halb mit Gras, halb mit Moos bewachsen, jetzt übersät von den letzten gelben und hellblauen Herbstblumen. Am Wasser riecht es nach Harz und faulendem Tang; Tag und Nacht hört man das Rauschen der Kiefern, hin und wieder Möwenschreie, in der Ferne manchmal ein Schiffshorn. Es herrscht tiefe Einsamkeit.
    Die Ruhe und beinahe magische Atmosphäre der Deer Isle faszinieren Steinbeck. Die Insel erinnert ihn an Dorset oder Somerset, das Land von König Artus. Er ist erst spät angekommen, keine Sandy weist ihm den Weg, in Bangor und später in Ellsworth hat er sich verirrt; schließlich erreicht er doch noch die große Eisenbrücke, »so hoch gewölbt wie ein Regenbogen«, biegt im Wald anweisungsgemäß an jeder Einmündung nach rechts ab und findet schneller als erwartet das große alte Haus von Miss Brace. Es ist der 26. September, ein Montagabend.
    In einem Brief an Elaine berichtet er, dass seine Gastgeberin und er sich sehr gut verstehen. Nur gehe ihm das Schreiben nicht mehr so leicht von der Hand, als habe Geld bringt Geld ihn erschöpft. In seinem Reisebericht schildert er vor allem die Wirkung des herbstlichen Lichts, so klar, dass sich jeder Gegenstand scharf von allen anderen abhebt: »Jede Kiefer stand selbstbewusst für sich, auch wenn sie Teil eines Waldes war.« In Stonington entdeckt er ein gutes Haushaltswaren- und Schiffszubehörgeschäft, in dem er eine solide Petroleumlampe für Rosinantes Kajüte kauft. Charley kann er nicht oft ins Freie lassen, denn die graue Hauskatze von Miss Brace, George, ist ein sehr unangenehmes Geschöpf voller Hass auf Mensch und Tier.
    Hat Steinbeck in seinem Reisebericht absichtlich ein wichtiges Ereignis ausgelassen, das ihm – wie ein Brief an Adlai Stevenson zeigt – keineswegs völlig entgangen ist? An jenem Montagabend, zwischen halb zehn und halb elf, als Miss Brace ihn willkommen hieß, wurde nämlich Geschichte geschrieben.
    Zum ersten Mal wurde eine Wahlkampfdebatte – zwischen dem Vizepräsidenten Richard Nixon und Senator John F. Kennedy – live in Fernsehen und Rundfunk übertragen. Und dies in einem geschichtlichen Moment von besonderer Bedeutung. Fast drei Jahrzehnte waren die Vereinigten Staaten von drei Präsidenten regiert worden, die auf unterschiedliche Weise den Aufbau des Landes als industrielles und militärisches Imperium entscheidend geprägt hatten. In den kommenden Jahren sollten die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner und der Aufstand der Jugend die Gesellschaft von Grund auf verändern; davon war allerdings während des Präsidentschaftswahlkampfs von 1960 noch kaum etwas zu spüren.
    Die beiden Kandidaten wurden damals völlig anders wahrgenommen als heute. Ich habe sie am Anfang dieses Buches als »einfachen Jungen« und »Reiche-Leute-Kind« bezeichnet, und genau so wurden sie zu jener Zeit von halb Amerika eingeschätzt. Man konnte allerdings die Kandidatur des katholischen Kennedy auch als mutigen Kampf eines Außenseiters gegen einen Vizepräsidenten sehen, der schon mehr als ein Jahrzehnt im Zentrum der Macht agierte.
    Richard Nixon war in liberalen und progressiven Kreisen unbeliebt, aber keineswegs die Negativfigur, zu der er später werden sollte. Ebenso wenig war John F. Kennedy schon der Staatsmann, als den ihn die Schulbücher heute darstellen. Damals herrschte vielmehr der Eindruck vor, dass die Kandidaten vieles gemeinsam hatten. Sie waren relativ jung und galten als frech; dass sich zwei Männer in ihrem Alter um die Präsidentschaft bewarben, war an sich schon ein Bruch mit der Tradition. Sie gehörten einer Generation an, die, wenn es um die Führung der Nation ging, noch nicht »an der Reihe« war. Dennoch betonte Nixon im Wahlkampf seine Erfahrung – und damit seinen Willen zum Erhalt des Status quo –, während Kennedys Parole Moving again der Ruhelosigkeit Ausdruck verlieh, die ebenfalls ein Merkmal jener Zeit war.
    Nixon war schon zum zweiten Mal Vizepräsident. Man respektierte ihn, weil er sich mit ungeheurer Energie aus einem ärmlichen Herkunftsmilieu emporgekämpft hatte. In Debatten konnte er sich sehr gut durchsetzen,

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