Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Hand auf dem Herzen. Auch die Launen einer oft nicht sehr freundlichen Natur und des brutalen Kapitalismus mögen hier eine Rolle spielen; mehr als die meisten Europäer sind Amerikaner abhängig von Wechselfällen des Schicksals, von Kräften, über die sie keine Kontrolle haben, und vielleicht auch deshalb empfänglicher für Religion. Steinbeck zählt in dieser Hinsicht zu den Ausnahmen. In seinem Reisebericht werden keine weiteren Gottesdienste erwähnt, und so steht zu befürchten, dass es, was den Kirchenbesuch angeht, bei den guten Vorsätzen geblieben ist.
Ich will es besser machen. Kirchen sind hier nicht nur religiöse, sondern auch soziale Gemeinschaften, weitaus mehr als in Europa. Wenn man sieht, wie sich Amerikaner in ihren Gemeinden engagieren, mit community work und anderen sozialen Aktivitäten, möchte man sie kaum als individualistisch bezeichnen, im Gegenteil. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist hier oft weniger etwas historisch Vorgegebenes als eine bewusste Entscheidung. In einer Gesellschaft von Siedlern, Pionieren und Einwanderern war es nie selbstverständlich, in seiner Heimatgegend zu bleiben, alten Vereinen die Treue zu halten oder der Kirche seiner Eltern anzugehören.
Ein Viertel der Amerikaner hat schon einmal die Konfession gewechselt, bei den Protestanten sogar jeder oder jede Zweite, oft sogar mehrfach. Es ist eine individuelle Entscheidung, die man auch korrigieren kann, so wie man im Leben überhaupt immer wieder neu anfangen kann oder muss. Im Grunde ist alles ein » deal «, ein Vertrag. Amerikaner fühlen sich frei, sich einer Gruppe anzuschließen und sie jederzeit wieder zu verlassen, aber solange man ihr angehört, ist es for better for worse . Man spricht auch von der »love it or leave it«-rule . Der Gedanke, dass der Mensch frei sei, selbst eine Gemeinschaft für sich zu wählen, sei » America’s brand of individualism «, meint die Soziologin Ann Swidler. Dies gilt auch für die Wahl der Kirche.
In Camden, einer nordenglisch anmutenden kleinen Industriestadt an der Küste von Maine, besuche ich zum ersten Mal auf dieser Reise einen Gottesdienst. In der ehrwürdigen Chestnut Street Baptist Church macht man sich noch nicht viele Gedanken um »Produktinnovation«. Aber es ist eine andere Art von Kirche, als ich sie kenne, sozialer. Fast die Hälfte der praktizierenden Gläubigen in den Vereinigten Staaten leistet regelmäßig ehrenamtliche Hilfe für Arme und Obdachlose – bei den Konfessionslosen ist es nur jeder Sechste. Ähnliches gilt für andere karitative Betätigungen. Auch für nichtreligiöse Zwecke bringen konfessionell gebundene Amerikaner im Allgemeinen doppelt so viel Geld und Zeit auf wie ihre nichtkonfessionellen Landsleute.
Wer sich in Amerika verloren und verlassen fühlt, sollte in eine Kirche gehen. Hier werde ich nicht als Fremder begafft, sondern willkommen geheißen: vom Pfarrer, der ein freundliches, rundes Gesicht hat, von den Leuten in den Bänken ringsum – das Vorstellen und Händeschütteln nimmt einige Zeit in Anspruch –, von einem Gemeindehelfer, der mir schnell noch eine Einladung zum Mittagessen und etwas Prospektmaterial zur Begrüßung zusteckt: »Unser Gottesdienst bringt das Beste aus allen Generationen zusammen – heutigen und längst vergangenen.«
Wir stehen auf und singen die alten Lieder. Die meisten Melodien kenne ich aus meiner eigenen protestantischen Vergangenheit, sie sind irgendwann aus Europa herübergeweht worden – und vielleicht wieder zurück: » Holy, holy, holy! Lord God Almighty …« Der Pfarrer senkt den Kopf und betet vor: für zwei neugeborene Babys, für einen Mann, der sich bei einem Sturz vom Dach ein Bein gebrochen hat, für ein Gemeindemitglied, das in der Woche zuvor einen Herzinfarkt erlitten hatte – »Gelobt sei der Herr, er ist operiert worden und wieder zu Hause!« –, für einen weiteren Mann, der mit einer Versicherungsgesellschaft prozessiert, weil auch er operiert werden muss und die Versicherung nicht zahlen will – »Herr, bewahre sein Herz vor Bitterkeit«.
Die Predigt ist nur eine sanfte Ermahnung. »Würde irgendjemand ohne Straßenkarte nach Kalifornien fahren? Die Bibel ist unsere Straßenkarte. In den Himmel!« Der Chor singt Seek Ye First , klangvoll und langsam. »Das war wirklich wundervoll«, seufzt der Pfarrer anschließend. »Könnt ihr euch vorstellen, wie die Chöre im Himmel für uns singen werden, wenn wir dort ankommen?« Nein, Pfarrer Adam Kohlstrom hat
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