Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Steinbeck sie noch in den Flüssen treiben sah, entdecken wir nicht, aber die gewaltigen Holzplätze gibt es nach wie vor; in diesem Teil des Landes ist die Luft erfüllt von betäubendem Harzduft. Es ist unglaublich still, und man kann zehn, zwanzig Meilen fahren, ohne ein Haus oder auch nur einen Schuppen zu sehen. Hin und wieder kommt uns ein riesiger Langholztransporter entgegen, noch seltener ein Personenwagen. Alle fahren ruhig und rücksichtsvoll, Zeit hat man hier genug. Plötzlich muss ich dann doch auf die Bremse steigen: Eine große Schar wilder Truthühner hastet über die Straße.
Anders als Steinbeck fahren wir nicht bis ganz in den Norden, sondern in einem weiten Bogen über Portage, Squapan, Patten wieder nach Südwesten und dann in Richtung New Hampshire, über Millinocket, Guilford und Rumford. Hier und da sieht man eine Farmruine. Der Niedergang der kleinen und mittelständischen Betriebe, dessen Anzeichen schon Steinbeck wahrnahm, hat sich fortgesetzt. Wir kommen an einem großen, verlassenen Sägewerk vorbei, einem Dorfladen mit zertrümmerten Scheiben, einem riesigen, leerstehenden Landhaus auf einem großen Feld voll gelber Blumen. In dem Weiler Sherwood Station stehen die meisten Häuser leer, die Veranden sind eingesunken, die Scheiben zerschlagen, die wenigen noch bewohnten Häuser farblos und heruntergekommen.
Wir fahren durch ein verträumtes Seengebiet, durch kleine Städte wie aus dem 19. Jahrhundert, angehaucht von Verfall; wir sehen eine verlassene Fabrik, eine Villa aus dem Jahr 1869, eine überwucherte Veranda, romantisch unter alten Bäumen an einem schnell strömenden Fluss gelegen. » Just a dollar? «, ruft das Radio. »Ich bin dein Dollar, nicht irgendeiner. Lass mich also aus deiner Tasche springen und für dich …« Es folgt die blumige Beschreibung eines Sonderangebots irgendeiner Hamburgerkette. Doch die lebhaften kleinen Industriestädte, in denen Steinbeck sich noch durch dichten Verkehr quälen musste, sind so ruhig geworden wie das Land ringsum.
In Rick’s Market in Wilton decken sich drei Männer mit Zigaretten ein, sie arbeiten in der Holzbranche, wo sonst. »Früher hatten wir hier eine Bekleidungs- und eine Schuhfabrik, alles weg. Yep.« Das Gespräch wendet sich bald dem Wetter zu, auch das habe sich sehr verändert, meinen sie, obwohl sie nicht so recht an all die Klimageschichten glauben. Zum Beispiel sind die Flüsse in diesem Sommer fast ausgetrocknet, das habe man noch nie erlebt. Es sei noch keine zwanzig Jahre her, da habe es manchmal schon Ende August die eine oder andere Frostnacht gegeben, dieses Jahr habe eine Bullenhitze geherrscht, wie in Texas. Aber jetzt erwarten sie doch bald eine Kaltfront. »Wenn wir im November keinen Schnee von den Dächern schippen müssen, kriegen wir einen milden Winter.«
Wir fahren weiter durch endlose Wälder, an einem breiten Fluss entlang, auf dem Schaumflocken treiben. Es ist ein dunkler, regnerischer Nachmittag, die Bäume dampfen, hier und da hängen Nebelschwaden über der Straße. Die Toten sind nie weit entfernt. Immer wieder einmal sieht man am Waldrand ein kleines Feld voller Steine und Farben, mit Kingsize-Gräbern für alle: ganz vorn die gefallenen Soldaten, links die Toten aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg, rechts die der Kriege aus jüngerer Vergangenheit – nicht selten schon ein Dutzend. Überall kleine Sternenbanner, auf den frischen Gräbern trauern Nelkensträuße.
Gegen Abend kommt Wind auf. Es schüttet jetzt wie aus Eimern, das Trommeln auf dem Autodach übertönt alles. Sandy lotst uns zu einem Motel. Steinbeck übernachtete in seiner Rosinante unter Bäumen, auch damals goss es, und in der Kabine war alles klamm und feucht; die Wetterberichte in den alten Zeitungen, die ich gesichtet habe, kündigten selten etwas anderes an als rain, showers and thundershowers . Vor allem kann ich mich immer wieder nur über die Entfernungen wundern, die Steinbeck pro Tag zurücklegte. Zeit, um sich ein wenig umzusehen oder mit Leuten zu reden, gönnte er sich kaum. Auch er muss tagelang diese unglaublichen Herbstfarben gesehen haben, erwähnt sie aber nur in wenigen Sätzen. Er wird jeden Abend erschöpft ins Bett gefallen sein.
Im Archiv der Stanford University bin ich auf das Original des langen Briefes gestoßen, den er am Ende der ersten Woche, am 1. Oktober 1960, geschrieben hat. Er fühlt sich einsam, verbringt die Nacht in einer Wohnwagensiedlung voller mobile homes , bewohnt von einer
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