Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
neuen Generation von Amerikanern. Fremd wie Marsmenschen kommen sie ihm vor: »Sie haben keinen Humor, keine Vergangenheit, und ihre Zukunft besteht aus neuen Campingwagenmodellen«, schreibt er an Elaine. Auf dem letzten Blatt versucht er sich an einem Gedicht für sie, in mangelhaftem Französisch und zum Teil unlesbar. Die Handschrift wird chaotisch, er schreibt es noch einmal auf, es bleibt unverständlich. Das gelbe Papier ist zerknittert und fleckig.
John fror, vermisste Elaine, trank.
TEIL DREI
When we are all hung for what we are doing now …
BENJAMIN HARRISON,
ABGEORDNETER AUS VIRGINIA,
BEI DER UNTERZEICHNUNG DER
UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG,
1776
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Jetzt, da wir eine Weile unterwegs sind, der Reiserhythmus sich in unserem Körper eingenistet hat und die Koffer unsere wichtigsten Möbelstücke geworden sind, stelle ich fest, dass in meinen Träumen und Gedanken etwas Seltsames vor sich geht. Sie sind nicht hier, sie versuchen permanent über den Ozean zu fliegen, zurück nach Hause. Während so einer Reise wird der Geist anscheinend auf ganz besondere Weise angeregt, nicht durch das, was man erlebt, sondern vor allem durch das, was nicht da ist, durch all das, was man zu Hause gelassen hat, die Städte und Landschaften, mit denen man sich offenbar intensiv verbunden fühlt.
Das Zuhause. Home . Etwas, womit die Amerikaner mich immer verblüffen, ist ihr Begriff » home «. Nirgends wird er mehr kultiviert, nirgends wird er mit mehr Objekten und Ritualen umgeben als in den Vereinigten Staaten. Wie schön sagte meine alte Freundin es auf ihrem Anrufbeantworter: » This ist the Laub home « – danach wurde einem richtig warm ums Herz.
» Home «, das ist ein Holzhaus mit einer Veranda, einem Rasen und Bäumen, verstreut herumliegenden Spielsachen, einer Garage, in der man herumkramen kann, und einem Schornstein, der friedlich zu rauchen beginnt, wenn es kälter wird.
» Home « ist der Block und das Viertel, in dem man wohnt. Es ist der Ort, wo die Regeln und Normen festgelegt werden, von: »Soll meine sechsjährige Tochter Klavier oder Chinesisch lernen? Oder beides?« bis »Wann rufen wir die cops ?« Es ist der Ort, wo dein Status bestimmt wird, immer wieder neu – denn Wohngegend und Haus sind, wie überall auf der Welt, ein sofort und deutlich sichtbares Aushängeschild dafür, wie viel jemand verdient. Oft ist » home « auch ein bloßer Traum, ein Ort, an dem man irgendwann einmal sein wird, ein » home « als Lebenserfüllung. Seine Einrichtung lässt vermuten, dass der Bewohner hier seit seiner Geburt lebt, dass schon seine Großmutter an diesem Küchentisch den knackenden und rauschenden Radioansprachen von Roosevelt lauschte und dass auch in Zukunft alles so bleiben wird. » Coming home « war ein Schlüsselbegriff der Repatriierung nach dem Zweiten Weltkrieg. » Home « war der Ort, wo die Familie wieder zusammenkommen und Wurzeln schlagen sollte und wo alles wieder gut werden würde.
Auch die verfallenen und verlassenen Bruchbuden, an denen ich in Maine vorübergekommen war, waren für ihre Besitzer früher einmal der Inbegriff von » home « gewesen. Ein-, zweimal hielten wir bei einer solchen Ruine an, spazierten durch den zugewucherten Vorgarten, gingen vorsichtig über die morsche Veranda, suchten uns einen Weg ins Innere, stiegen über die Löcher in den Wohnzimmerdielen. Vögel flüchteten flatternd aus der Küche, ein verrosteter Kühlschrank lag schräg auf der Seite, überall auf dem Boden halb vermoderte Preislisten von Rene J. Fournier Farm Equipment Inc., Gardinenfetzen schaukelten wie alte Spinnweben vor dem Fenster, Reste von Blümchentapete – irgendwann einmal mit Liebe ausgesucht – hingen von den Wänden, nass und halb vergammelt.
Mit den Symbolen der Beständigkeit und Verwurzelung wird ein reger Handel getrieben. Steinbeck bemerkte während seiner Fahrt durch Neuengland so viele vollgestopfte Antiquitätenläden, dass er zu dem Eindruck gelangte, alles, was das koloniale Amerika je an Tischen, Stühlen und Geschirr hervorgebracht hat, müsse dort erhältlich sein, und noch einiges mehr. Wenn er seinen noch ungeborenen Urenkeln einen Gefallen tun wollte, so schrieb er, dann könnte er jetzt den ganzen Plunder auf den Mülldeponien zusammensuchen, ihn in Mottenkugeln lagern, und in hundert Jahren wären seine Urenkel die Antiquitätenkönige der Welt.
Diese Vorhersage hat sich einigermaßen bewahrheitet. In Ellsworth verbrachten wir eine Stunde im örtlichen
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