Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
sechziger Jahren noch mit Recht verkünden: » A rising tide lifts all boats .« Das war der ökonomische Aspekt der amerikanischen Ausnahmestellung: In den Vereinigten Staaten, so die Idee, konnte jeder, der die Ärmel hochkrempelte, genug verdienen, um eine Familie zu gründen und zu ernähren. Und wenn man ein bisschen Glück hatte und besonders hart arbeitete, konnte man, auch wenn man mit nichts anfing, bald zur Mittelschicht gehören. Ja, man konnte es sogar vom Zeitungsboten zum Ölmagnaten bringen und unvorstellbar reich werden. Wer sich nur ein kleines bisschen Mühe gab, wurde ganz bestimmt nicht ärmer.
Und das entsprach tatsächlich der Wahrheit, zumindest im Großen und Ganzen. Vom 18. Jahrhundert an, als in den Häusern der Pioniere von Deerfield allmählich der Luxus Einzug hielt, während des gesamten 19. Jahrhunderts, als sich solche Luxusgüter bis in die entfernten Winkel der Prärie verbreiteten, und im 20. Jahrhundert, in dem sich immer mehr Menschen Autos, elektrische Geräte, größere und noch größere Häuser leisten konnten, ging es den Amerikanern von Generation zu Generation besser – bis in die siebziger Jahre.
Dann veränderte sich alles. Der Niedergang vollzog sich anders als während der Großen Depression, allmählicher. Die Löhne stiegen nicht mehr, die amerikanische Industrie begann mit der Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer, auch durch Automatisierung gingen zahllose Arbeitsplätze verloren, und immer mehr Frauen waren berufstätig.
In den Augen vieler meiner Gesprächspartner besteht die heutige amerikanische Gesellschaft aus haves und have-nots , und mit Abstand die meisten zählen sich selbst zur zweiten Kategorie. Die Zahlen geben ihnen recht. Wenn man alles miteinander verrechnet – Löhne, Renten, Beiträge zu Renten- und Krankenversicherungen, Steuern –, geht es der großen Mehrheit der amerikanischen Arbeitnehmer heute schlechter als vor dreißig Jahren. Es ist schwer, von einem Traum Abschied zu nehmen, besonders von einem so inspirierenden und überzeugenden wie dem amerikanischen. In den vergangenen Jahrzehnten wollten die meisten Amerikaner die Veränderungen nicht wahrhaben. Irgendwie, glaubten sie, würden sie ihren Lebensstandard halten können, die Krise werde vorübergehen, das System sich wieder stabilisieren. Man konnte an der Illusion festhalten, weil mehr Familienmitglieder mehr arbeiteten – wie oft bekam ich zu hören, dass 1960 ein Arbeitslohn immer ausgereicht habe, um eine Familie zu ernähren, während das 2010 für einen durchschnittlichen Arbeiter unmöglich sei.
Die Zunahme der Berufstätigkeit von Frauen mit Kindern ist nicht nur ein Zeichen für Fortschritt in der Emanzipation, sondern erklärt sich auch durch wirtschaftliche Notwendigkeiten. 1960 hatte nur jede fünfte Frau mit Kindern eine Stelle, 2007 waren es mehr als drei Fünftel. Zwischen 1947 und 1973 hat sich das Realeinkommen einer amerikanischen Durchschnittsfamilie verdoppelt; zwischen 1973 und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist es nur noch um ein Viertel gestiegen, und das auch nur, weil meist beide Ehepartner berufstätig sind. So arbeiten amerikanische Paare mit Kindern, wenn man die bezahlten Arbeitsstunden beider Partner addiert, inzwischen erheblich mehr als früher – durchschnittlich sind es pro Jahr zweieinhalb bis drei Arbeitsmonate zusätzlich. Dadurch ergeben sich natürlich neue Probleme; während der Abwesenheit beider Eltern müssen die Kinder betreut werden, häufig wird die Anschaffung eines weiteren Autos notwendig.
Viele beschritten andere Wege, um ihren Lebensstandard zu halten. Sie spekulierten auf eine bessere Zukunft, die vermeintlich bald anbrechen würde. Die Anzahl der Menschen ohne Arbeitslosen- und Krankenversicherung stieg schnell. Außerdem wurden von den sechziger Jahren an immer mehr Kredite und Darlehen aufgenommen. Die altbewährte Art der Vorsorge, das Sparen, kam dagegen aus der Mode: 1980 legten die Amerikaner durchschnittlich noch fast 10 Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante, 2005 waren es nur noch 1,5 Prozent. »Mit der alten Ethik der Sparsamkeit konnte fast niemand mehr etwas anfangen«, schrieb der Historiker Daniel Boorstin schon 1973. »Es gehörte inzwischen zur amerikanischen Lebensweise, dass sich jeder Dinge gönnte, bevor er sie bezahlen konnte.«
Auf diese Weise blieb der schöne Schein noch eine ganze Zeit gewahrt, bis es nicht mehr ging, bis die Hypothekenblase platzte, was zu den Krisen von 2007
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