Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Welt, mit der anderen sehen sie eine »moralische« Welt, eine Welt, wie sie sein müsste, eine Traumwelt, die jedoch – wie sie glauben – in Reichweite liegt. Daher auch die Ausrichtung auf die Zukunft und der Optimismus des durchschnittlichen Amerikaners, der sich dadurch von den oft fatalistischen Bewohnern der Alten Welt unterscheidet: »Wenn er nicht so viel Phantasie hätte, würde er auch nicht so intensiv in der Zukunft leben.«
Dieser Logik folgt zudem die unausgesprochene, aber tief verwurzelte Vorstellung, dass das Leben eines jeden Individuums in hohem Maße machbar ist. You Learn by Living lautete der Titel eines der Ratgeber von Eleanor Roosevelt über «gut leben« – und man könnte dem Dutzende von Titeln aktueller Veröffentlichungen hinzufügen. Das Leben ist für viele Amerikaner nicht etwas Naturgegebenes, sondern eine Art Aktivität, an der man permanent herumpolieren und feilen muss, eine Fertigkeit, für die man üben muss wie für eine Prüfung, ein Fachgebiet, auf dem man als Amateur beginnt und auf dem man sehr weit aufsteigen kann, bis zum Lebensprofi.
Auch das gehört zur Legende von dem Mann, der bis zu seinem letzten Atemzug an Uhren herumbastelte und sich letztendlich sogar die Zeit gefügig machen wollte.
5
Detroit schien zu schlafen, als wir am 7. Oktober 2010 in die Stadt fuhren. Man hätte meinen können, es sei halb neun am Sonntagmorgen, doch es war Donnerstagvormittag, halb zwölf. Das ist die Katastrophe, die diese Stadt getroffen hat. Sie ist zu einer modernen Geisterstadt geworden, zum postmodernen Tschernobyl der Vereinigten Staaten.
Von unserem hoch oben gelegenen Hotelzimmer aus schaue ich auf etwas, das wie ein Park aussieht, voller Blumen und Grün. Wo früher Häuser standen, ein Block nach dem anderen, gibt es jetzt große kahle Flächen, die allmählich wieder zuwachsen. Die Häuser, die übrig geblieben sind, stehen oft einzeln da, wie ein Hänsel-und-Gretel-Haus in einem noch jungen Wald. Die Fabrikgebäude verfallen, ihre Dächer sind halb eingestürzt, Bäumchen wachsen aus den Laderampen, und in den Mauern klaffen große Brandlöcher. Das Stadtzentrum wurde für fast dreimal so viele Menschen gebaut und eingerichtet, wie dort heute wohnen. Die Grundfunktionen werden noch aufrechterhalten, die Zentrale von General Motors und das Renaissance-Hotel dominieren mit ihren luxuriösen gläsernen Türmen die Innenstadt, aber die Bürgersteige sind leer, die normalen Läden und Hotels sind mit Brettern vernagelt, die Bürogebäude starren fensterlos ins Nichts, die Parkplätze sind verwaist.
Nur einen Typ Mensch sieht man überall: den Angestellten privater Sicherheitsdienste. Entlang des Flusses wurde unlängst ein hübscher Boulevard angelegt, über den die ganze Stadt in der Abenddämmerung flanieren könnte, aber es sind nur zwei Jogger und eine Handvoll Sicherheitsleute unterwegs. Aus Lautsprechern erklingt nonstop klassische Musik, um die Junkies zu beruhigen. Die Atmosphäre erinnert an die Wolgaufer bei Wolgograd, der ehemaligen Heldenstadt Stalingrad, in der ich früher einmal auf der Durchreise ein paar Tage Station gemacht habe und wo auch alles durchdrungen war von altem Kampf und pathetischer Marschmusik.
Detroit ist das Paradebeispiel für eine Millionenstadt, die durch einen Wirtschaftszweig aufgestiegen und niedergegangen ist – und durch eine Handvoll Männer, die in dieser Branche beherrschend waren. Im 19. Jahrhundert verfügte die Stadt noch über genau die richtige Zusammensetzung für ein gesundes und ausgewogenes Wachstum: eine gut ausgebildete Bevölkerung und viele kleine Betriebe. Doch im 20. Jahrhundert hielt auf einmal der große Erfolg Einzug. Detroit wurde »Motown«, die »Motor City« von Amerika, eine Stadt mit über zweihundert Fabriken, in denen Autos, Motoren und Zubehör hergestellt wurden, eine Welt, in der jeder hier im Schatten der drei Giganten Ford, Chrysler und General Motors lebte.
Die Hunderttausende von Männern und Frauen von Motown waren zum größten Teil am Fließband beschäftigt, Arbeiter, die ein, zwei Dinge gut konnten und keine Berufsausbildung hatten. Dadurch war Detroit eine ideale Stadt für Immigranten, vor allem für schwarze Arbeiter aus den südlichen Staaten, die ab dem Ersten Weltkrieg zu Zehntausenden nach Detroit zogen. Die Stadt war nicht so wild wie Los Angeles, Chicago oder New York, man konnte dort nicht so schnell reich werden oder ein große Show abziehen, doch Detroit bot Glückssuchern
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