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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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wohl die Gewissheit eines ordentlichen Jobs, eines bescheidenen Hauses, eines eigenen Autos, einer Zukunft für die Kinder.
    Ernie Pyle kam im November 1935 an einem Detroit vorbei, das mit seiner Größe und Betriebsamkeit, dem Schmutz und Rauch beinahe beängstigend war. Zugleich besaß es Persönlichkeit, eine Stadt, die sich nach der Wirtschaftskrise bereits wieder wundersam erholte. »Die Autofabriken laufen schon wieder auf vollen Touren«, notierte Pyle. »Die Straßenbahnen sitzen voller Arbeiter, die ihre Brotdosen auf dem Schoß haben. Die Cocktailbars quellen über vor reich aussehenden Leuten. Theater, die oft jahrelang geschlossen waren, sind bis unters Dach gefüllt. Detroit ist wieder glücklich.«
    Während des Krieges entwickelte sich das Gebiet rund um Detroit zum Herzen der amerikanischen Waffenindustrie. In Willow Run, rund dreißig Meilen südlich, stampfte die Ford Motor Company einen gigantischen Fabrikkomplex aus dem Boden, diesmal nicht für Autos, sondern für die Produktion des Bombers B-24 Liberator. Vierzigtausend Menschen arbeiteten dort, und zu Stoßzeiten rollte jede Stunde eine B-24 vom Band. Am Ende des Krieges hatte die amerikanische Waffenindustrie – außer Millionen Bomben und Gewehren – 7400 Schiffe gebaut, 300 000 Flugzeuge, 88 000 Panzer, 635 000 Jeeps und 2,4 Millionen Lastwagen. Ein großer Teil der Produktion stammte aus diesem Industriegebiet.
    John Steinbeck fuhr im Oktober 1960 über Toledo und das nahe gelegene Pontiac und steuerte danach Flint an, wo die riesigen Buick- und Chevroletfabriken von General Motors standen. Detroit selbst mied er – so wie die meisten anderen großen Städte. Seine Notizen waren knapp, er hatte es eilig, er wollte schnell weiter nach Chicago, um dort Elaine zu treffen. Er war erstaunt über die sagenhafte Größe von allem, was er sah, und über das unglaubliche Chaos, das dort anscheinend herrschte. Es komme ihm so vor, als sei die Luft voller Elektrizität, schrieb er, so viel Energie gehe von diesem Teil Amerikas aus. »Gleich ob aufs Gute oder aufs Böse gerichtet, die Vitalität war überall.«
    Zu diesem Zeitpunkt gehörte Detroit mit seinen zwei Millionen Einwohnern zu den fünf reichsten Städten Amerikas. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist es die ärmste Stadt des Landes. Laut der letzten Volkszählung leben dort noch etwa 700 000 Menschen, von denen 28 Prozent arbeitslos sind; unter der schwarzen Bevölkerung beträgt die Arbeitslosenquote 50 Prozent. Mehr als doppelt so viele Familien wie im übrigen Amerika – nämlich 38 Prozent – leben unter der Armutsgrenze. In den Jahren von 2000 bis 2008 verlor die Stadt ein Viertel seiner Einwohner, eine demographische Katastrophe.
    In diesem Moment steht ein Drittel der Wohnungen leer, das sind etwa 60 000. Der durchschnittliche Preis für ein Apartment betrug im Jahr 2003 noch 98 000 Dollar; Ende 2009 waren es 15 000 Dollar, aber mit etwas Glück kriegt man auch schon was für 1000. Im Haushalt der Stadt fehlen 200 Millionen Dollar. Seit 2005 wurden fast 70 Schulen geschlossen. Weniger als ein Viertel der Schüler verlässt die weiterführenden Schulen mit einem Abschluss.
    Hinter den gläsernen Wänden des Renaissance-Hotels spürt man davon nichts. Hier findet gerade ein Kongress zum Thema Christian leadership statt. »Ist es nicht herrlich, dass wir hier aus allen Ländern zusammengekommen sind«, spricht uns eine Dame an, als wir im Lift nach unten sausen. »Aus Indien, Nebraska, Kansas, herrlich, herrlich. God bless .« Weg ist sie, ihren sauberen Seifengeruch zurücklassend.
    In der Halle liegt The Detroit News vom Abend. »Lebensmittelhändler erschossen«, » Carjack – diesmal war es ein zehnjähriger Junge. ›Er kam kaum an die Pedale‹, sagte der betroffene Autofahrer nervös lächelnd.« Ein paar Seiten weiter stoße ich auf eine Reportage über die Traumaabteilung des Henry-Ford-Hospitals, ein grimmiger Indikator für die Misere Detroits. Andere Städte wie Miami und San Antonio kommen mit einer Traumaabteilung aus. Detroit hat vier. »Wer Traumachirurg werden will«, sagt Pat Patton, der Chef der Abteilung, »der muss nach Detroit kommen. Kaum jemand sieht so viele Verletzungen durch Messer und Schusswaffen wie wir.«
    Ein paar Beispiele, an einem willkürlichen Abend: eine zweihundert Kilo schwere Frau, die, weil sie nicht versichert ist, den Arztbesuch so lange hinausgeschoben hat, bis sich ein Virus durch ihren Magen gefressen hat; ein Junge wurde von

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