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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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einem Auto angefahren, zum Glück nichts Ernstes – die Mutter weigert sich, das Kind abzuholen, es soll den Bus nehmen; einem Mann wurde durch den Fußknöchel geschossen – eine »freundliche Erinnerung« an einen Zahlungsrückstand. Es gibt Männer, die sehen Pat Patton und seine sieben Kollegen jedes Jahr mit Schusswunden oder Messerstichen auf ihrem OP-Tisch wieder. Patton selbst ist sechsundvierzig, er arbeitet wie ein Militärarzt während einer Schlacht, schon seit zwei Jahrzehnten, mehr oder weniger ununterbrochen.
    Auf einer Terrasse am Fluss ist nach wie vor Stimmengeplätscher zu hören, und der Wein funkelt wie seit alters her. Der Ober lächelt, er hat immer hier gelebt. »Eine gute Methode, mit dem Problem umzugehen, ist natürlich auch, ihm den Rücken zuzukehren.«
    Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt, philosophierte gern mit seinem Brötchengeber über den »Ruinenwert« ihrer Entwürfe: Wie würden die gewaltigen Bauten auf dem Reichparteitagsgelände in Nürnberg in tausend Jahren aussehen? Auch in verfallenem und überwucherten Zustand sollte, wie in Rom, die Glorie des Dritten Reichs schließlich noch deutlich erkennbar bleiben. An Detroit hätte der Ruinenfreund Speer seine helle Freude gehabt. Und es gibt noch mehr Liebhaber: Im Internet kann man auf Webseiten wie The Fabulous Ruins of Detroit die ganze Stadt virtuell durchwandern – Ruinen, die von den Machern bereits mit denen von Ephesus, Athen und Rom verglichen werden.
    Die vollen Nahverkehrszüge, die Pyle und Steinbeck sahen, kamen 1988 zum Stillstand. Die riesige quadratische Michigan Central Station, achtzehn Stockwerke hoch und mit der früher einmal berühmten Beaux-Arts-Innenausstattung, steht anno 2010 einsam auf einer kahlen Grasfläche. Das gesamte Bahnhofsviertel, die ganze Geschäftigkeit der Büros, Hotels und Restaurants, wurde komplett ausradiert. Aus der Ferne erinnert das Gebäude an den verlassenen Palast des größenwahnsinnigen rumänischen Diktators Ceauşescu. Jahrelang war es das Reich von Hausbesetzern, Junkies und Katastrophentouristen; jetzt ist es massiv mit Natodraht gesichert, der in der Sonne funkelt.
    Außerhalb des Zentrums war das alte Detroit vor allem eine Stadt aus Holz. Was übriggeblieben ist, sind vor allem Gebäude aus Stein, Betonkomplexe und überall Parkhäuser, in denen kein Auto mehr zu sehen ist. Das Holz ist zum größten Teil verschwunden. Hier und da findet man noch ein Hotel, manchmal noch mit halb vermoderten Neonlampen – AIRCONDITIONING COLOR TV –, zum Teil eingestürzt, zum Teil verbrannt. Es gibt Dutzende Ruinen von Schulen, Büros und Fabriken aus dem 19. und 20. Jahrhundert, dem weiteren Verfall preisgegeben, mit Brandlöchern und Bäumen, die aus den Fenster- und Türrahmen wachsen. Bürohochhäuser sind mit Holzkonstruktionen umgeben, um Passanten vor herabfallenden Trümmern zu schützen, dreißig Stockwerke und mehr, vollkommen leer. Im reichverzierten Theatersaal der Stadt, wo früher einmal Frank Sinatra und andere Berühmtheiten aufgetreten sind, parken heute Autos.
    Sechs Uhr, Rushhour. Wir machen eine Fahrt mit dem People Mover durchs Zentrum. Die Monorailbahn ist praktisch leer. Wir steigen an der Oper auf dem Broadway aus. Auf der anderen Straßenseite hat Daniel, der Betreiber einer kleinen Kneipe, ein paar Plastikstühle und zwei Tische auf den leeren Bürgersteig gestellt. Er spielt mit seinem Nachbarn Charles Schach. Die Oper ist geschlossen, das Orchester befindet sich wegen einer Lohnsenkung um 30 Prozent seit dem Vortag im Streik. An der Theke wird heftig diskutiert. »Früher wurde hier Nabuco mit einem sechzigköpfigen Chor aufgeführt, heute sind wir nur noch zweiunddreißig.«
    »Aber man muss doch essen!«
    Draußen ist ein Teil der Terrasse abgesperrt, auch hier können Stücke aus der Fassade brechen. Hin und wieder fährt ein Auto vorbei. Das Zwitschern eines Vogels schallt durch die Straße. Die Männer machen gemächlich ihre Züge, wechseln dann und wann ein Wort. Ein Farbiger kommt auf einem Fahrrad vorbei, auf dem Gepäckträger ein schwerer Lautsprecher. Der Soul ist noch zu hören, als er schon längst um die Ecke verschwunden ist. »Das ist in der Tat ein nettes Plätzchen«, sagt Charles. »Ich sitze gerne hier. Es ist so ruhig und friedlich hier. Broadway! Das hätten wir früher nie gedacht.«
    Ja, der Epilog eines Katastrophenfilms, daran erinnert das Ganze tatsächlich, das finden beide.
    In ihrem Epos The Warmth of Other Suns

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