Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
ihn auffordern, seine Behauptungen zu belegen, und er würde die Antworten herunterrasseln. Er hat sicher Campbells Asthmaspray bemerkt, das Aftershave erkannt, ihn beim Essen beobachtet und Fotos der Kinder gesehen…
Das macht mir Angst an Joe. Es ist, als könnte er den Kopf anderer Menschen knacken und den Inhalt deuten wie Teeblätter. So jemandem möchte man nicht zu nahe kommen, weil er einem irgendwann vielleicht den Spiegel vorhält und zeigt, was die Welt sieht.
Joe blättert durch meine Patientenunterlagen, wirft einen Blick auf die Ergebnisse der Kernspin- und der Computertomographie und klappt die Mappe wieder zu. »Was ist passiert?«
»Eine Waffe, eine Kugel, das Übliche.«
»Was ist das Erste, woran Sie sich erinnern können?«
»Hier aufzuwachen?«
»Und das Letzte?«
Ich antworte nicht. Seit zwei Wochen – seit ich aufgewacht bin – zermartere ich mir das Hirn und komme immer nur auf Pizza.
»Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Frustriert. Wütend.«
»Weil Sie sich nicht erinnern können?«
»Niemand weiß, was ich dort auf dem Fluss zu suchen hatte. Es war kein Polizeieinsatz. Ich habe auf eigene Faust gehandelt. Ich bin kein störrischer Einzelgänger. Ich ziehe nicht einfach los wie ein Punk mit einem ›Born to Lose‹-Tattoo auf der Brust… Die behandeln mich hier wie so eine Art Verbrecher.«
»Die Ärzte?«
»Die Polizei.«
»Das Gefühl könnte auch eine Reaktion darauf sein, dass Sie sich an nichts erinnern. Sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie denken, jeder außer Ihnen kennt das Geheimnis.«
»Sie glauben, ich leide unter Verfolgungswahn.«
»Ein verbreitetes Symptom im Zusammenhang mit Amnesie. Man glaubt, die Leute würden einem etwas verheimlichen.«
Ja, aber das erklärt auch nicht, was Keebal von mir will. Er hat mich schon drei Mal besucht und mir falsche Anschuldigungen und wüste Behauptungen an den Kopf geworfen. Je hartnäckiger ich mich weigere zu sprechen, desto härter geht er auf mich los.
Joe rollt seinen Stift über seine Fingerknöchel. »Ich hatte einmal einen fünfunddreißigjährigen Patienten ohne jede neurologische oder psychische Vorbelastung. Er ist auf einem vereisten Weg ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen. Er ist nicht ohnmächtig geworden oder irgendwas. Er ist sofort wieder aufgestanden und weitergegangen…«
»Hat die Geschichte auch eine Pointe?«
»… Er konnte sich nicht an den Sturz erinnern und wusste auch nicht mehr, wohin er unterwegs war. Er hatte komplett
vergessen, was in den zwölf Stunden zuvor passiert war, wusste aber trotzdem seinen Namen und erkannte auch seine Frau und seine Kinder. Das nennt sich transiente globale Amnesie, wahrscheinlich in Verbindung mit retrograder Amnesie. Minuten, Stunden oder Tage verschwinden. Man weiß noch, wer man ist, und die Betroffenen verhalten sich auch normal, können sich jedoch an ein bestimmtes Ereignis oder eine fehlende Zeitspanne nicht erinnern.«
»Aber die Erinnerungen kommen wieder, oder?«
»Nicht immer.«
»Was ist mit Ihrem Patienten geschehen?«
»Anfangs dachten wir, er hätte nur den Sturz vergessen, aber auch andere Erinnerungen fehlten. Er konnte sich nicht mehr an seine frühere Ehe erinnern und an ein Haus, das er gebaut hatte. Und er wusste nicht, dass John Major je Premierminister gewesen war.«
»Dann hatte es ja auch seine guten Seiten.«
Joe lächelt. »Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob Ihr Gedächtnisverlust dauerhaft ist. Ein Schädeltrauma ist nur eine Möglichkeit. In den meisten aktenkundigen Fällen ging körperlicher oder emotionaler Stress voraus. Angeschossen zu werden gehört sicher dazu. Geschlechtsverkehr oder ein Sprung in kaltes Wasser haben ebenfalls schon solche Episoden ausgelöst…«
»Ich werde drauf achten, nicht im Tauchbecken zu vögeln.«
Mein Witz kommt nicht an. »Bei traumatischen Erlebnissen ändert sich die Balance von Hormonen und Chemie im Gehirn fundamental«, erklärt Joe weiter. »Es ist wie unser Überlebensinstinkt – unsere Kampf/Flucht-Reaktion. Manchmal verharrt das Gehirn noch für eine Weile in diesem Überlebensmodus, wenn die Bedrohung schon vorbei ist – für alle Fälle. Wir müssen unser Gehirn davon überzeugen, dass es loslassen kann.«
»Und wie machen wir das?«
»Wir reden. Wir ermitteln. Wir benutzen Terminkalender und Fotos, um unserer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.«
»Wann haben Sie mich zuletzt gesehen?«, frage ich ihn unvermittelt.
Er überlegt einen Moment. »Wir haben
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