Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
weggeworfen.«
»Nein, kein Blut. Erde von den Blumenampeln – ich habe ein wenig verschüttet.«
»Erde?«
Er nickte eifrig.
»Du hast gesagt, du hättest Mickey nie auf einen Ausflug mitgenommen. Wir haben Fasern von ihrer Kleidung in deinem Wagen gefunden.«
»Nein. Nein.«
Ich ließ die Stille wirken. In Howards Blick lag eine Mischung aus Angst und Reue. Dann überraschte er mich, indem er von sich aus weitersprach. »Erinnern Sie sich an Mrs. Castle … von der Schule? Sie hat Tanzstunden gegeben.«
Und ob ich mich erinnerte. Sie sah aus wie Julie Andrews in The Sound of Music (nachdem sie das Kloster verlassen hatte) und kam in den feuchten Träumen eines jeden Fünftklässlers vor, mit Ausnahme vielleicht von Nigel Bryant und Richard Coyle, die vom anderen Ufer waren.
»Was ist mit ihr?«
»Ich habe sie einmal unter der Dusche gesehen.«
»Sag bloß!«
»Doch, das stimmt. Sie hat die Dusche vom Direktor benutzt, und Archie, der alte Sportlehrer, hatte mich losgeschickt, um aus dem Personaltrakt eine Startschusspistole zu holen. Sie kam gerade aus der Dusche, trocknete sich die Haare ab und sah mich erst, als es zu spät war. Sie hat mich zugucken lassen. Sie stand da und ließ mich zusehen, wie sie ihre Brüste abtrocknete und ihre Strumpfhose anzog. Hinterher hat sie mir das Versprechen abgenommen, es niemandem zu erzählen. Ich wäre der berühmteste Junge der Schule gewesen. Ich hätte nur diese Geschichte erzählen müssen. Ich hätte mir einen Haufen Prügel und all den Spott und die Sticheleien ersparen können. Ich hätte eine Legende sein können.«
»Und warum hast du es nicht getan?«
Er sah mich traurig an. »Ich war verliebt in sie. Und mir war egal, dass sie nicht in mich verliebt war. Ich habe sie geliebt. Es war meine Liebesgeschichte. Ich erwarte nicht, dass irgendjemand das versteht, aber es ist wahr. Man muss nicht zurückgeliebt werden. Man kann auch so lieben.«
»Was hat das mit Mickey zu tun?«
»Mickey habe ich auch geliebt. Ich hätte ihr nie wehgetan … nicht mit Absicht.«
In seinen blassgrünen Augen standen Tränen, die er, weil er sie nicht wegblinzeln konnte, mit den Händen abwischte. Er tat mir Leid. Er hat mir schon immer Leid getan.
»Es ist wichtig, dass du mir jetzt zuhörst, Howard. Du kannst dann später reden.« Ich zog meinen Stuhl näher heran, bis unsere
Knie sich berührten. »Du bist ein Mann mittleren Alters, warst nie verheiratet, lebst alleine, verbringst deine ganze Freizeit mit Kindern, machst Fotos von ihnen, schenkst ihnen Eis, machst Ausflüge mit ihnen …«
Seine Wangen verfärbten sich dunkel, aber seine Lippen blieben schmal und weiß. »Ich habe Nichten und Neffen. Und ich fotografiere sie. Daran ist nichts verkehrt.«
»Und du sammelst Kinderkataloge und Kinderzeitschriften.«
»Das ist nicht illegal. Sie sind nicht pornographisch. Ich will Fotograf werden, Kinderfotograf …«
Ich stand auf und trat hinter ihn. »Eins verstehe ich nicht. Was siehst du in kleinen Mädchen? Keine Hüften, keine Brüste, keine Erfahrung. Das mit dem Schleckermäulchen und so, okay – Mädchen riechen besser als Jungen, aber Mickey hatte keine Kurven. Die gute Fee der Pubertät hatte ihr noch nicht jenen Zauberstaub in die Augen gestreut, der ihre Lider flattern und ihren Körper reifen lässt. Was siehst du in kleinen Mädchen?«
»Sie sind unschuldig.«
»Und du willst ihnen diese Unschuld nehmen?«
»Nein. Niemals.«
»Du willst sie im Arm halten… sie berühren.«
»Nicht so. Nicht auf eine schmutzige Art.«
»Mickey muss dich ausgelacht haben. Der unheimliche alte Kerl von gegenüber …«
»Ich habe sie nie angefasst«, wiederholte er lauter.
»Kennst du Wer die Nachtigall stört ?«
Er stutzte und sah mich fragend an.
»Boo Radley war der unheimliche Typ mit dem entstellten Gesicht, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Alle Kinder hatten Angst vor ihm. Sie haben Steine auf sein Dach geworfen und eine Mutprobe daraus gemacht, seinen Garten zu betreten. Aber am Ende ist es Boo Radley, der Scout und Jem vor dem eigentlichen Bösewicht rettet. Er wird ein Held. Hast du darauf gewartet, Howard – Mickey zu retten?«
»Sie kennen mich nicht. Sie wissen gar nichts über mich.«
»Oh doch. Ich weiß ganz genau, wer du bist und was du tust: ›Grooming‹ nennen das die Experten. Der Pädophile wählt sein Opfer aus. Er isoliert es. Er freundet sich mit seinen Eltern an. Er drängt sich langsam in sein Leben, bis es ihm vertraut
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