Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
Sie Ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken – Sie murksen in meinem Kopf rum.«
Erst nach einer Weile merke ich, dass ich ihn anbrülle. Zum Glück ist außer dem Barkeeper und dem schlafenden Säufer niemand da.
»Sie scheint in dem Pflegeheim nicht besonders glücklich zu sein.«
»Es ist ein verdammtes Pensionärsdorf.«
Er klappt das Album auf. Das erste Bild zeigt meinen Stiefvater John Francis Ruiz, einen Bauernsohn aus Lancashire. Er trägt eine Uniform der Royal Air Force und steht auf dem Flügel eines Lancasterbombers. Sein Haar ist schon damals schütter, doch die hohe Stirn lässt seine Augen größer und lebendiger wirken.
Ich erinnere mich an das Foto. Zwanzig Jahre lang stand es neben einem gerahmten Foto von der Silberhochzeit und einer dieser kitschigen Schneekugeln mit der St. Paul’s Cathedral auf dem Kaminsims.
John Ruiz galt nach dem 13. Juli 1943, nach dem Bombereinsatz über der Brücke in Gent, als vermisst. Die Lancaster wurde von deutschen Jagdflugzeugen getroffen, explodierte in der Luft und fiel zu Boden wie ein feuriger Komet.
»Im Einsatz verschollen. Vermutlich tot«, hieß es in dem Telegramm. Aber er war nicht tot. Er überlebte in einem deutschen Kriegsgefangenenlager und kehrte nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass die »Zukunft«, für deren Schutz er so tapfer gekämpft hatte, mit dem Sergeant einer amerikanischen Verpflegungseinheit nach Texas durchgebrannt war. Niemand machte ihr einen Vorwurf, am allerwenigsten mein Stiefvater selbst.
Und dann traf er Sophie Eisner (oder Germile Purrum), eine »jüdische« Näherin mit einem Säugling. Sie schlenderte lachend und Arm in Arm mit zwei Freundinnen den Hügel von Golders Green hinab.
»Und nicht vergessen«, rief die Älteste von ihnen. »Heute Abend treffen wir die Männer, die wir heiraten.«
Vor dem Kino am Fuße des Hügels begegneten sie einer Gruppe junger Männer, die in der Schlange warteten. Einer von ihnen trug ein einreihiges Jackett mit drei Knöpfen und Nieten am Revers.
»Welcher ist meiner?«, flüsterte Germile ihren Freundinnen zu.
John Ruiz lächelte sie an. Ein Jahr später heirateten sie.
Joe schlägt eine Albumseite um. Die graubraunen Bilder scheinen in das Papier gesickert zu sein. Da ist ein Foto vom Bauernhof – ein Hufnerhaus mit kleinen Bleiglasfenstern und Türen, die so niedrig waren, dass mein Stiefvater sich ducken musste, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Meine Mutter füllte die Räume mit Nippes und Souvenirs und redete sich erfolgreich ein, es seien Erbstücke ihrer verschwundenen Familie.
Die gepflügten Felder waren schokoladenbraun, und Rauch flatterte wie eine zerfetzte weiße Fahne aus dem Schornstein. Im Spätsommer wurden die Heuballen an den Hängen zu kleinen Burgen aufgestapelt.
Manchmal kann ich die Morgen noch riechen – den verbrannten Toast, den starken Tee und das Talkumpulver, das sich mein Stiefvater zwischen die Zehen sprenkelte, bevor er sich die
Strümpfe anzog. Wenn er die Tür schloss, bellten die Hunde aufgeregt und tanzten um seine Füße herum.
Leben und Tod habe ich auf dem Bauernhof kennen gelernt. Ich habe neugeborenen Lämmern die Hodensäcke aufgeschnitten und die Hoden mit meinen Zähnen herausgerissen. Ich habe meinen Unterarm tief in die Eingeweide einer Stute geschoben, um nach einer Erweiterung des Gebärmutterhalses zu tasten. Ich habe Kälber für die Gefriertruhe getötet und Hunde begraben, die eher Geschwister als Haustiere waren.
Es gibt keine Fotos vom alltäglichen Leben auf dem Hof. Das Album hält nur die besonderen Anlässe fest – Hochzeiten, Geburten, Taufen und Erstkommunionen.
»Wer ist das?«, fragt Joe und zeigt auf ein Foto von Luke, der in einem Matrosenanzug auf der Treppe vor dem Haus sitzt. Seine blonde Tolle steht aufrecht wie ein Wimpel.
Der Kloß in meinem Hals fühlt sich an wie ein Tumor. Ich lege die Hand vor den Mund, um zu verhindern, dass Alkohol und Morphium mich redselig machen, aber die Worte sickern aus offenen Poren heraus.
Luke war immer klein für sein Alter, dafür war er laut und nervig. Ich war meistens im Internat, sodass ich ihn nur in den Ferien sah. Daj ließ mich auf ihn aufpassen und erklärte Luke gleichzeitig, er solle aufhören mich zu ärgern, weil er ständig Schwarzer Peter spielen und meine Fußballbildchen ansehen wollte.
Wenn im tiefen Winter Schnee lag, bin ich immer die hügeligen Felder hinuntergerodelt, von unserer Haustür aus bis zu einem Fischteich am Fuße des
Weitere Kostenlose Bücher