Amnion 3: Ein dunkler, hungriger Gott erwacht
Spiel stand. Natürlich. Sicher war das der Grund. Man hatte Angus Thermopyle auf Kassafort losgelassen. Unter der Aufsicht niemand anderes als – um Himmels willen! – Milos Taverners. Und explizit ohne Befehl, Morn Hyland zu befreien. All das war schon genug zum Kotzen. Aber Dios’ skandalöse Videokonferenz mit dem EKRK hatte alles noch verschlimmert. Für das Ressort Öffentlichkeitsarbeit war sie der reinste Alptraum gewesen, ein Skandal, den man unmöglich unter den Teppich kehren konnte. Rücksichtslos hatte Warden Dios auf den sogenannten moralischen Prinzipien der ›Stimmen‹ herumgetrampelt. Seitdem hatte Godsen vier Anrufe Maxim Igensards, fünf Vize-Konzilsdeputierter Carsins und zwei Abrim Lens erhalten – und nicht einen dieser Anrufe entgegengenommen, weil er einfach nicht wußte, was er sagen sollte.
Und das Attentat NEIN auf Sixten Vertigus NEIN hat alles noch VIEL schlimmer gemacht GAR NICHT DARAN DENKEN. Bloß nicht daran denken.
Es wäre leichter, mit den Anrufern zu sprechen, als darüber nachzudenken.
Die Freizügigkeit beschränkt aufs VMKP-HQ.
Mit einem Mal befiel Godsen die feste Überzeugung, daß es das einzige vorstellbare Mittel sein mochte, um den Schaden für die VMKP – und letzten Endes Holt Fasner – zu begrenzen, zur Erde zu fliegen und Igensard, Carsin und auch dem guten, alten Fossil Sixten Vertigus einen persönlichen Besuch abzustatten. Im Gespräch von Mensch zu Mensch gelang es vielleicht, ihre Hysterie zu beschwichtigen, ihnen mit salbungsvollen Worten die überspannten Standpunkte auszureden; ihnen gewissermaßen den Schweiß der Paranoia von der Stirn zu tupfen. Mit persönlichen Auftritten leistete Godsen stets die optimale Überzeugungsarbeit. Jedes technische Medium, auch die Videoverbindung, minderte den Charme, der ihn für seine Position so einmalig geeignet machte, verringerte den Effekt seiner Fähigkeit, hauchzarte Schleier der Illusion zu spinnen und als substantielle Faktoren auszugeben.
Daß Warden Dios allem Anschein nach dahin tendierte, auf diese kaputte Art und Weise seppuku zu begehen und dabei den Direktor seines Ressorts Öffentlichkeitsarbeit mit in den Untergang zu reißen, war schlichtweg unerträglich.
Durchdrungen von Furcht und Ängsten, die er beharrlich zu leugnen versuchte, erschrak Godsen unwillkürlich, als sein Interkom-Apparat läutete. Er ließ den Textausdruck fallen, als wäre das Papier heiß, hätte er sich daran die Finger verbrannt. Seine Hand zitterte, als er die Interkom einschaltete.
»Ja?«
»Direktor Frik, Holt Fasner ist am Apparat.«
Godsen hatte seine Sekretärin ausgesucht, weil sie die Art von einschmeichelnder, klangvoller Stimme hatte, die bei Neuigkeitenjägern – wie Godsen es formulierte – Lustträume hervorrief. Er haßte die Frau und ihre Stimme aus tiefstem Herzen. Doch er verbarg seine Abneigung vollständig. »Stellen Sie durch, meine Liebe«, sagte er mit patriarchalischem Gebrummel. »Man läßt die Großmächtigen nicht warten.«
»Ja, Sir.«
Sofort knackte einer der Lautsprecher auf seinem Schreibtisch; es handelte sich um die Verbindung, die er für die geheimsten Kontakte verwendete.
»Godsen…« Fasner nannte den Namen nicht im Frageton. Und den eigenen Namen erwähnte er gar nicht. Es wäre auch überflüssig gewesen: Godsen hätte seine Stimme im Schlaf erkannt. »Was, zum Teufel, geht da zur Zeit vor? Unser EKRK-Stimmvieh scheißt sich schier in die Hose.«
»Mr. Fasner, Sir, ich bin ganz froh darüber, daß Sie anrufen«, schwadronierte Godsen augenblicklich drauflos, während sein Gehirn noch fieberhaft auf den ersten sinnvollen Satz der Unterhaltung hinarbeitete. »Ich wollte mich gerade selbst bei Ihnen melden. Ich befasse mich im Moment mit einem Bericht über…«
»Ersparen Sie mir den Quark«, erwiderte der Drache. Seine Stimme hatte einen unpassend freudigen Klang. »Erzählen Sie so was, wo’s uns was nutzt. Hätten Sie mit mir reden wollen, wäre ich längst von Ihnen angerufen worden. Sagen Sie mir lieber die Wahrheit. Also, ist eigentlich die Hölle los, oder was?«
Bei Godsen wurden alte Reflexe wirksam. »Könnten Sie die Frage etwas genauer fassen?« fragte er, als säße er an einem Rednerpult vor den feindselig gestimmten Teilnehmern einer Pressekonferenz. Echte Würde brachte er momentan nicht auf, aber immerhin konnte er jederzeit einen förmlichen, gereizten Tonfall anschlagen. »Offen gestanden, es ist in mehrfacher Beziehung die Hölle los. Über welchen
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